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Leipziger Buchmesse 2024: Das Tiefe im Flachen suchen

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 24. März 2024 | 17:27:35 | Roland Müller

Alles außer flach. Unter dieses wunderbar selbstironische Motto hat das diesjährige Doppel-Gastland Niederlande & Flandern seinen Gemeinschaftsstand auf der Leipziger Buchmesse gestellt. Wir verstehen das als Aufforderung, eine Runde durch die flachen und Tiefen Gewässer des Bücherangebots zu drehen.

Als erstes Leseopfer haben wir J. J. Voskuils mittlerweile auf sieben Bände angeschwollene Romanserie über die Höhen und Tiefen des Büroalltags in einem volkskundlichen Forschungsinstitut auserkoren. Wer lange genug im Angestelltenverhältnis erwerbstätig war oder gar verbeamtet, dem wird vermutlich bei der Lektüre das (beabsichtigte) Lachen im Halse stecken bleiben. Genau deshalb nach wie vor: Lesetipp!

Eine ganz andere Nummer ist das Fien Veldmans Xerox. Ein ungewöhnlicher Debütroman, in der Tat. Geht es doch um Identitätsfindung, die sich in Zwiegesprächen der Protagonistin mit einem Bürodrucker offenbart. Endlich einmal ein humorvoller und trotzdem Denkanstöße setzender Roman auf einem mit reichlich Minen gespickten Themenfeld. Lesetipp!

Wir mäandrieren weiter durch die Hallen und Gänge. Vorbei an den Ständen der großen Publikumsvevrlage wie hier zum Beispiel Suhrkamp. Rappelvoll ist es überall. Und überall sehen wir Menschen, die mit Büchern in der Hand an den Kassen Schlange stehen.

Oder wie bei Piper Bücher anlesen und mehr oder weniger in den Gedanken der Autorinnen versinken. Ist es nich genauu das, was eine Buchmesse ausmacht?

Wobei nicht nur das ganz normale, belletristisch geprägte Programm der Verlage die Menschen anzieht. Sondern vielleicht mehr denn je auch das Programm politischer Bücher. Besonders auffällig ist das bei C.H.Beck …

Democracy sells! So könnte man eingedenk des schnell wachsenden Angebots von Büchern denken, die sich mit dem Zustand, vor allem aber der Bedrohungslage unserer Demokratie auseinandersetzen. Recht so!

Wobei das durchaus auch in sehr handfeste Parolen gefasst werden kann und darf. Leipzig scheint ein besonders geeigneter Ort zu sein für Ansagen mit klarer Kante. Immerhin startete in dieser Stadt die erste, einzige und vor allem erfolgreiche unblutige Revolution der deutschen Geschichte.

Ob es vor diesem Hintergrund opportun ist, nach Frau Merkel ausgerechnet auch noch Olaf Scholz zur Ermittlerfigur in einer geplanten Reihe von Kriminalromanen zu machen, möchten wir nicht kommentieren. Man muss nicht auf jeden Zug aufspringen. Aber wer weiß? Vielleicht hat sich da eine Beraterin oder ein Berater im Kanzleramt gedacht, dass daraus ein Imagegewinn für den Vielgescholtenen herausspringen könnte?

Das tun die beiden jungen Verleger und Gründer des Kjona Verlags zum Beispiel nicht. Lars und Flo, bereits ein Leben lang enge Freunde, haben gemeinsam den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt und damit in ein Abenteuer mit naturgemäß unklarem Ausgang. Aber: Sie haben alles richtig gemacht, und ihr noch kleines, aber sehr feines und literarisch anspruchsvolles Programm lässt manchen alteingesessenen Verlag schon jetzt alt aussehen. Neugierig, unabhängig und nachhaltig wollen sie sein. Und das sind soe tatsächlich, wie wir nach einem Gespräch am Stand feststellen konnten. Insofern unsere dringende Empfehlung: Schaut Euch die Bücher an, die die beiden verlegen. Jedes einzelne davon ist lesenswert. Lesetipp der besonderen Art!

Wir schlendern weiter und drehen eine Runde über den rustikal anmutenden Gemeinschaftsstand der Schweizer Verlage. Allein hier könnte man sich stundenlang festlesen.

Das gilt in kleinerer Auflage auch für den Stand des Hybrid-Verlages. Wir treffen Autor Michael Knabe (links) und Matthias Schlicke (rechts), den Pressechef, Autor, Lektor und so etwas wie der Haushaltsvorstand des Verlages. Michaels mittlerweile mehrbändige Reihe ziemlich genialer magiefreier Fantasyromane faszinieren uns ebenso wie so manches, was da in den Regalen vor uns ausgebreitet liegt. Müssen wir erwähnen, dass wir den Stand mit ein paar Einkäufen verlassen. Gerade in der Vielzahl der kleinen, engagierten Verlage liegt der eigentliche Reiz der Leipziger Buchmesse im Vergleich zum Kommerzmonster Frankfurter Buchmesse. Beides Messekonzepta haben ihre Berechtigung. Beide ergänzen sich. Anmerkung am Rande: Als sich beiläufig herausstellte, dass Matthias Schlicke vor der Wende als politischer Kabarettist tätig war und unsere Begeisterung für den legendären Dieter Hildebrandt teilt, haben wir uns regelrecht festgequatscht, was die Möglichkeiten der deutschen Sprache angeht, Botschaften zwischen den Zeilen spielen. Hätten wir nicht noch weitere Termine gehabt …

Wenig später lauschen wir auf der Literaturbühne von ARD, ZDF und 3sat dem Gespräch mit Omri Böhm. Einer von jenen Autoren, denen man in diesen kriegsgetriebenen Zeiten unbedingt zuhören sollte.

Mit seinen Aussagen im Kopf sahen wir viele der Cosplayyerinnen, die auf der Messe unterwegs waren, sich präsentierten und sich fotogtafieren ließen, mit anderen Augen. Tun sie nicht im Prinzipg genau das, was auch die meisten Leserinnen und Leser tun? Dem brutalen Hier und Jetzt entfliehen in eine Scheinwelt, in der es zwar oft kaum weniger brutal zugeht, jedoch ohne die Konsequenzen der realen?

Mit diesem Gedanken im Kopf verlassen wir die heiligen Hallen und kämpfen uns durch den mittlerweile strömenden Regen durch zur Station der Tram Linie 16 – wo sich dann zeigt, dass die Flucht aus der Realität und die Kostümierung für eine Parallelwelt auch hier und jetzt ihr Gutes haben kann: sie vermag den Regen abzuhalten 😉

In diesem Sinne verabschieden wir uns für heute von Euch, sortieren unsere Gedanken und Bücher und melden uns morgen mit einer kleinen Nachlese. CU!

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Leipziger Buchmesse 2024: Tag 2 und spannende Begegnungen

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 22. März 2024 | 19:35:05 | Roland Müller

Manchmal verbirgt sich das Profane im Abstrakten. Oder das Abstrakte im Profanen. Beides haben wir auf der Leipziger Buchmesse angetroffen. Angefangen bei diesem Detail der berühmten Treppe, die längst zum Keyvisual der LBM geworden ist.

Während wir an diesem zweiten Messetag zu besagter Treppe spazieren, wehen unter dem Rund der Glashalle die Kriegsflaggen der dominierenden Clans, ähem, die Fahnen der öffentlich-rechtlichen Kultursender.

Während besagte Treppe beweist, dass sie zwar als farbiges Aushängeschild der Messe herhält, aber alles andere als barrierefrei ist. Und ja, wir wissen natürlich, dass es Fahrstühle und Rolltreppen gibt. Aber viele Besucher wollen nun mal ihren Fuß auf die Stufen setzen, die mittlerweile die Bücherwelt bedeuten. Warum also nicht auch die Räder?

Oben angekommen, beobachten wir beim Weitergehen durch einen der Verbindungstunnel zu Halle 3 ein Fotoshooting dreier Cosplayerinnen. Es schien uns je, dass hier eine Menge Professionalität eingezogen ist. Kaum eine Cosplayerinn oder ein Cosplayer ohne begleitenden Hoffotografen.

Wie wandern enlang zahlloser Stände, die neben Literatur auch die notwendigen Accessoires für die Playercommunity anbieten. Wobei kleine Übertreibungen durchaus vorkommen mögen.

Mittlerweile haben wir uns auch daran gewöhnt, zwischen literaturbeflissenen Familien, Paaren und Einzelkämpfern immer wieder Kreaturen zu treffen, die aus ihren Rollen in die Realität entsprungen scheinen. Macht nichts. Solange es allen Spaß bereitet.

Nach einer kurzen Runde durch Halle 3 kehren wir zurück unter die Glaskuppel und platzieren uns unmittelbar gegenüber dem Podcast-Stand von detektor.fm … eine gute Wahl, wie sich schnell herausstellt. Denn hier entwickelt sich gerade ein Interview mit einer der Preisträgerinnen des Preises der Leipziger Buchmesse, Bora Chung. Deren kongeniale Übersetzung der Sammlung von zehn so geistreichen wie witzigen und gleichwohl tiefschürfenden Kurzgeschichten, erschienen unter dem Titel Der Fluch des Hasen bei CulturBooks und geschrieben von Ki-Hyang Lee, ist umgehend auf unserer Leseliste gelandet. Lesetipp! Neben ihr sitzt übrigens Sachbuchautor Tom Holert, dessen Text/Bild Essay „ca. 1972“ das vielleicht wichtigste Wendejahr in der bundesrepublikanischen Geschichte be- und durchleuchtet.

Zurück im Getümmel schlendern wir bei Ullstein vorbei und erhaschen bei Ullstein einen Blick aufs plakative Grün von Marc Raabes neuestem Thriller Die Dämmerung. Unnötig, den hier noch vorzustellen. Schließlich ist Marc auf Insta ausreichend gegenwärtig.

Einen Stand weiter, bei Propyläen Econ lächelt uns Omri Böhm an, der Gewinner des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2024. Einer der ganz wenigen Sachbuchautoren, der es schafft, hoch komplexe Inhalte in einfache, klar verständliche Worte zu fassen. Und darüber hinaus mit seinem Entwurf eines Radikalen Universalismus leidenschaftlich und absolut überzeugend mitten im Kant-Jahr einen humanistischen Ansatz wiederbelebt, mit dem sich jenseits allen Identitätsgeschwafels die Ungerechtigkeit in der Welt kompromisslos bekämpfen lässt. Lesetipp!

Nach den Ereignissen neulich in Frankfurt gewarnt, gelingt es uns, rechtzeitig einen großen Bogen um den Stand von Bastei Lübbe zu machen, wo es wieder zu den erwarteten Verdichtungen im Gedränge kam. Nicht lustig. Was sich hier wohl während der Signierstunden abspielen mag?

Wir schwimmen uns erfolgreich frei und verweilen eine Zeit lang bei mdr KULTUR, wo mit Frank Goldammer ein ebenso unterhaltsamer wie humoriger Krimiautor interviewt wurde. Seine sieben Bände um den Dresdner Ermittler Max Heller dürften mittlerweile zu einem festen Bestandteil jeder gut bestückten Krimibibliothek geworden sein. Hier präsentierte er mit Zeiten des Verbrechens den achten Band als Vorgeschichte zu den bereits bekannten. Wenn auch nur ein Bruchteil des Witzes und der Selbstironie von Goldammer in diesem Krimi steckt, dann ist erlesenswert. Lesetipp!

Eine Ecke weiter, beim Forum Offene Gesellschaft, wurde ein Thema diskutiert, über das sich ein etablierter und erfolgreicher Krimiautor vermutlich keinen Kopf machen muss. „Bücher machen: wer kann sich das leisten?“ stand als Frage im Raum und auf dem Wanddisplay. Ein so spannendes wie heikles Thema, geht es doch dabei um die Spielregeln des Buchmarktes schlechthin und, natürlich, auch um die Kommerzialisierung und deren Folgen. Die unter anderem darin bestehen, das viele Themen, die vermeintlich keine ausreichend große Zielgruppe finden, bei Publikumsverlagen einfach unter den Tisch fallen. Die Diskutierenden machten dies am Beispiel eines Buches fest, das die Geschichten der ersten Generation der damals so genannten „Gastarbeiter“ eingefangen hat und für die nachfolgenden Generationen festzuhalten versucht. Und dafür gibt’s keinen ausreichend großen Markt? Hm.

Wir ziehen weiter, passieren dabei das Abbild der geschrumpften Kuppel des Bundestags und denken bei uns, ob sich daraus womöglich ein erfolgter Schrumpfungsprozess unserer demokratischen Strukturen, ihrer politischen Entscheidungsträger und ganz generell dem Demokratieverständnis ableiten ließe.

Ncht weit davon entfernt ergötzten sich einige grobgestrickte Lehrer (-innen haben wir keine entdeckt) an einer Präsentation zum Thema Dialektik für Lehrerinnen. Offenbar besteht da in den Schulen amssiver Nachholbedarf. Vielleicht ergänzt durch eine handfeste Nahkampfausbildung?

Natürlich haben wir kurz Halt gemacht beim Team von Volksverpetzer …

… und einen Stand weiter bei der Truppe von Correctiv. Der jüngste investigative Coup hat ja jede Menge Schlagzeilen gemacht und endlich dafür gesorgt, dass die schweigende Mehrheit schlagartig erkannt hat, dass ihr Schweigen nun ein Ende haben muss, bevor sie irgendwann vielleicht tatsächlich zum Schweigen gebracht wird.

Beim Forum Literatur + Audio bekommen wir mit einem Ohr mit, wie an eine uns unbekannte Autorin ein Preis vergeben wird für eine Quintillion verkaufter Hörbücher. Wir sind gebührend beeindruckt. Ob da BookTok im Spiel war? Immerhin darf man konstatieren, dass der Hörbuchmarkt sich für die Verlage und die Autoren überaus erfreulich entwickelt.

Und wer sitzt da bei btb auf dem Bänkchen unter dem Porträt von Ferdinand von Schirach? Richtig, Ferdinand von Schirach. Vermutlich mit seiner Lektorin ins Gespäch über sein nächstes Werk vertieft. Muss ja kein Theaterstück sein, diesmal.

Eigentlich reicht das jettz für diesen zweiten Messetag. Das sagen uns auch unsere Füße. Deshalb werfen wir einen vorletzten Blick auf die Zusammenrottungen diverser Cosplayerinnen-Clans und wenden ns langsam wieder dem Ausgang zu.

Dabei stolpern wir regelrecht über Katja Riemann, die sich gerade von Messebesuchern zu einer Widmung nötigen ließ. Ja, prominente Autorinnen haben’s nicht leicht. Aber wohl nirgendwo sonst als hier auf der Leipziger Buchmesse ist die Distanz zwischen begeisterten leserinnen und ihren Autorinnen so gering.

Bevor wir dann doch den heutige Messetag hinter uns lassen, ist abschließend für diesen Rundgang noch eine tiefe Verbeugung vor Fiston Mwanza Mujila agesagt. Der in Österreich lebende Kongolese ist brillant und hat den diesjährigen Preis der Literaturhäuser verliehen bekommen. Zum einen, weil er nach Tram 83 nun mit Der Tanz der Teufel erneut einen herausragenden Roman vorgelegt hat, der uns tief eintauchen lässt in die kongolesische Gesellschaft, insbesondere in jene der geschundenen und ausgebeuteten armen Teufel, die dem Buch seinen Namen gegeben haben. Zum anderen, weil Mwanza Mujila, der sich selbst eher als Sprachkomponist denn als Schriftsteller begreift, eine unglaubliche Lese-Performance an den Tag legt. Er hält keine Lesung, er tanzt, schreit, flüstert Sprache, dass es einen buchstäblich vom bequemen Lesesessel haut. Großes Sprachkino. Und Lesetipp sowieso!

Womit wir für heute wieder am Ende unserer kleinen Messereportage angekommen sind. Morgen geht’s in alter Frische weiter. CU again!

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In eigener, ganz anderer Sache …

Veröffentlicht in Arktis, Klimakrise, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 08. Dezember 2023 | 15:19:50 | Roland Müller

Dem einen oder anderen Besucher unseres digitalen Cafés mag es bereits bekannt sein, einigen aber vielleicht noch nicht: Seit einer Weile blogge ich nicht nur hier auf dieser Seite, sondern betätige mich auch als Schriftsteller. Als Thriller-Autor, um genau zu sein. Noch genauer: Als Autor von Thrillern, die im abtauenden Eis der Arktis spielen. Und das auf professioneller Basis als Verlags-Autor. Ende November, Anfang Dezember 2022 konnte ich einen Literaturagenten für meine Ideen begeistern. Und der wiederum hat mich anhand von Expo und Leseprobe an die Aufbau Verlage in Berlin vermittelt. Mein Thriller-Erstling EISRAUSCH ist in der Frühjahrs-Vorschau 2024 des Verlages angekündigt (ein PDF der Vorschau von Aufbau Taschenbuch kann man sich herunterladen) und wird ab 13. August 2024 in den Buchhandlungen ausliegen. Vorbestellt kann er natürlich jetzt schon werden. Und zwar hier: EISRAUSCH.

Wer mehr zu diesem meinem Herzensprojekt erfahren will, findet allerlei Informationen dazu auf meiner Autoren-Homepage. Ebenso wie ein paar Hinweise, wieso ich mich thematisch ausgerechnet in der Arktis herumtreibe. Der zweite Band der Thriller-Reihe ist übrigend bereits in Arbeit und soll 2025 erscheinen. Manuskriptabgabe ist laut Vertrag der Mai 2024. Wie es danach weitergeht, werden ich dann sehen. Ideen für zwei weitere Bände gibt’s bereits …

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Gedanken zum 7. Oktober 2023

Veröffentlicht in Gesellschaft, Politik | 07. November 2023 | 16:56:20 | Roland Müller

Heute, genau einen Monat nach dem blutrünstigen Massaker der Hamas-Miliz an mehr als 1.400 israelischen Kindern, Müttern und Großmüttern, Vätern und Großvätern und zwei Tage vor dem 9. November, dem Tag der Erinnerung an die Reichpogromnacht, als in Deutschland die Synagogen brannten, ist es Zeit, innezuhalten.

Wir müssen uns die Frage stellen, wie gefühlskalt, teilnahmelos und abgestumpft wir in diesem unseren Land geworden sind. Warum haben die von der Hamas selbst gedrehten Horrorvideos von abgeschlachteten und teils geköpften Kindern, vergewaltigten Frauen, aufgeschlitzten Bäuchen Schwangerer und in ihren Häusern lebendig verbrannter Menschen nicht berührt? Warum haben sie nicht unsere Herzen erreicht? Warum sind wir nicht zu Tausenden und Zehntausenden auf die Straße gegangen, um gegen das schlimmste Pogrom an jüdischen Menschen seit dem Terror der Nazis zu protestieren? Was hätten wir getan, wenn – gemessen an der Bevölkerungszahl – hierzulande entfesselte Terrorbanden johlend und videografierend knapp 20.000 deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger abgeschlachtet hätten?

Müssen wir uns vielleicht eine ganz andere Frage stellen?

Die Frage, wie tief der Antisemitismus in unserer deutschen Gesellschaft verwurzelt ist und wie oberflächlich die Wurzeln von Humanismus, Mitgefühl und Empathie verankert sind?

Offenbar sehen viele von uns, eine überwiegende, beharrlich schweigende Mehrheit, nicht die Menschen, die leiden; wollen sie nicht sehen, wokken sich nicht dazu äußern, wenden sich ab. Starren Tage und Wochen danach auf die Bilder gepeinigter palästinensischer Kinder, die die Bildschirme fluten. Ebenfalls Opfer eines Krieges, den eine Terrororganisation angezettelt hat, die in ihrer religiös-ideologischen Verblendung nicht einmal davor zurückschreckt, die eigenen Mitbürger als Geiseln zu nehmen, sie gar vorauseilend als Märtyrer zu bezeichnen, deren verdammte Pflicht es sei, für die Sache der Hamas zu sterben. Immerhin, und das erschrickt mich wirklich, scheinen vielen Deutschen die leidenden Palästinenser emotional näher zu gehen als die abgeschlachteten Israelis. „Die sind doch selbst dran schuld“, tönt es aus ganz rechten und ganz linken Kreisen. Dort, wo einerseits offener, andererseits subtiler, intellektuell verbrämter Antisemitismus schon immer zu Hause war. Ebenso in Kreisen mancher Muslime, die zu uns geflüchtet sind oder schon lange bei uns leben. Oft genug angeheizt von den ErdoÄŸanen dieser Welt, die nihr ganz eigenes Süppchen kochen und die Palästinenser seit Jahrzehnten für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Wie leicht sich doch mit den passenden Bildern und Erzählungen Opfer zu Täter stilisieren lassen. Wie blind wir doch erneut darauf hereinfallen, wie schon in den zwölf Jahren eines tausendjährigen Reichs. Und lange davor. Die selben Erzählungen, die selbe Mechanik der Entmenschlichung. So durchsichtig. So erkennbar. So wirkungsvoll.

Beginnt es wieder?

Danke an das Börsenblatt des deutschen Buchhandels für diesen Appell.

Danke an Robert Habeck für diese Rede. Eigentlich wäre es Sache des Bundeskanzlers gewesen, sie zu halten.

Danke für diese Initiative des deutschen Literaturbetriebs.

Danke für diesen Beitrag auf buchmarkt.de

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FBM 2023 – Sonntag (5/5): Dichtung und Wahrheit

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 22. Oktober 2023 | 22:00:50 | Roland Müller

Heute hat Sir Salman Rushdie in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegengenommen. Die Laudatio hielt sein Freund Daniel Kehlmann. Gestern Abend war Rushdie zu Gast bei der Literaturgala der Frankfurter Buchmesse, bezeichnenderweise im Raum Harmonie des Conference Centers. Noch gezeichnet von dem zurückliegenden Attentat, aber mit dem ihm eigenen unzerbrechbaren Optimismus. Der Kernsatz seines heutigen Auftritts in der Pauklskirche stand unausgesprochenauch über dem gestrigen Abend: „Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann“. Wir nehmen diesen Satz als Einleitung zu unserer heutigen Würdigung des literarischen Schreibens und des letzten Tages der 75. Frankfurter Buchmesse. Und wir beginnen mit einem kurzen Rückblick auf die gestrige Literaturgala …

Moderiert wurde der Abend von Thea Dorn und Denis Scheck. Was erwartbar war.

Denis Scheck und Thea Dorn dürfen vermutlich als das Dream Team der deutschen Literaturkritik gelten. Zumindest wenn man die Popularität und die mediale Aufmerksamkeit als Maßstab nimmt. Und in der Tat, sie liefern.

Scheck eröffnete die im Gegensatz zum vergangenen Jahr bis auf den letzten Platz ausverkaufte Literaturgala mit einem Interview mit Salman Rushdie, der Würdigung seiner geradezu märchenhaften Erzählkunst und einer kurzen Vorstellung seines aktuellen Romans Victory City.

Auftritt Thea Dorn. Sie unterhielt sich mit Thomas Hettche, dem Berliner Romancier und Autor und interviewte ihn zu den Hintergründen und womöglich autobiografischen Bezügen, die sich in seinem aktuellen Roman Sinkende Sterne verbergen mögen. Was Hettche nicht verhehlte und, darauf angesprochen, was es mit dem etwas surrealen Titel auf sich habe, schalkhaft darauf verwies, dass ihn eine bekannte Feministin darauf verwiesen hatte, dass alle Männer sinkende Sterne seien. Das habe ihm gut gefallen. Denn dann sei er ja irgendwann einmal ein Stern gewesen. Ach ja, die Koketterie des Autors, kein neues Phänomen, aber in diesem Fall charmant vorgetragen.

Auftritt Scheck. Im Gespräch mit Cornelia Funke zeigte auch sie sich von ihrer koketten Seite. In Gestik und Worten. Was den guten Denis regelrecht hinriss. Funke, die mit Die Farbe der Rache auf der diesjährigen Buchmesse den lange erhofften vierten Band ihrer geradezu legendären Tintenwelt-Romane vorgestellt hat, mag man jede Art von Koketterie verzeihen. Weil sie eine großartige Schriftstellerin und Erzählerin ist und sich für zahllose humanitäre Herzensprojekte engagiert. Zuletzt für ihr ‚Artists in Residence‘ Projekt in der Toskana, von dem Scheck nach einem gerade abgeschlossenen Besuch schwärmte. Und was ist nun die Farbe der Rache? Grau natürlich.

Auftritt Dorn im Zwiegespräch mit Christopher Clark. Der Historiker und großartige Erzähler – keine allzu häufige Kombination – hat mit seinem neuesten Werk Frühling der Revolution nicht weniger vorgelegt als eine grundsätzliche Neubewertung der Revolution von 1848/49 als erste und einzige europäische Revolution, die er zudem als keineswegs gescheitert interpretiert und dafür auch gute Argumente vorbringt. In gewisser Weise bietet er seine Neuinterpretation der EU als Kern eines neuen Selbstverständnisses und für ein neues Storytelling an. Bedenkenswert.

Auftritt Scheck im Interview mit Amir Gudarzi. Und schon stand die politische Gegenwart wieder hart im Raum. Wie schon beim Auftritt von Sir Salman Rushdie. Nur härter und kompromissloser. Der exiliranische Dramaturg und Theaterautor, einst Opfer des Teheraner Ajatollah-Regimes, lebt mittlerweile in Österreich. Er verglich im Gespräch nicht ohne Ironie seine physischen Foltererfahrungen im Iran mit den psychischen Foltermethoden der österreichischen Bürokratie während des viele Jahre dauernden Prozesses der Asylgewährung und schlussendlichen Einbürgerung. Und er schloss mit einem flammenden Appell, die Aussagen der iranischen Regierung, Israel vernichten zu wollen, endlich ernst zu nehmen und nicht nur als Worte abzutun. Nicht von ungefähr pflegt auf iranischen Raketen in hebräischen Lettern „Tod Israel“ zu stehen. Sollte der Iran irgendwann über Atomwaffen verfügen, nicht auszudenken …

Auftritt Dorn im Gespräch mit Lizzie Doron. Die israelische Friedensaktivistin und Autorin und Stimme der sogennanten „zweiten Generation“ wirkte sichtlich traumatisiert, als sie ein Handzettel hochhielt, auf dem unter der Headline ENTFÜHRT auf eine israelische Familie hinwies, die sich wie so viele andere Opfer des zurückliegenden Massakers in den Händen der Hamas befindet und um deren Leben sie bangt. Sie verhehlte nicht ihren mentalen zusammenbruch nach den jüngsten Erfahrungen eines Pogroms in einem sicher geglaubten Land. Es fiel ihr sichtlich schwer, danach auf das Buch zurückzukommen, das sie während der Corona-Pandemie geschrieben hat und das seiner deutschen Veröffentlichung harrt. Bewegend. Der Abend klang mit langanhaltendem Applaus und etlichen Blumensträußen aus. Zurück blieb eine merkwürdige Stimmung irgendwo zwischen Optimismus, Melancholie und Trotz. Immerhin, der 1.800 qm große Saal, in dem all dies spielte, trug den Namen „Harmonie“. Vielleicht muss man das als Hoffnungssignal interpretieren …

Nach diesem kurzen und schnellen Ritt durch die gestrige Literaturgala wenden wir uns nun einer kleinen Nachlese der mittlerweile geendeten 75. Frankfurter Buchmesse zu. Als Anknüpfungspunkt, Schnittstelle zu den folgenden Themen mag dieser Schnappschuss dienen:

Auf der Außenterrasse von Halle 3.1 lief er an uns vorbei: Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Nachdenklich, mit verschränkten Armen und in eher gedrückter Stimmung. Was mag ihm durch den Kopf gegangen sein? Wo weilen seine Gedanken? Und wie bescheuert ist diese Frage so kurz nach dem Hamas-Massaker? Für einen Moment legt sich der Schatten der Zeitgeschichte über unsere Wahrnehmung einer fröhlichen, selbstbewussten und erfolgreichen Buchmesse …

Was tun, um wieder zur Ruhe zu kommen? Vielleicht einfach tief durchatmen und einfach relaxen. Möglichst ohne dabei so angestrengt dreinzuschauen wie diese beiden Herren. Wir versuchen es und steuern danach einmal mehr den Stand der Aufbau Verlage an. Hatten wir gestern ja versprochen.

Mit Jens Andersen: Tove Ditlevsen – ihr Leben nehmen wir eine, nein die Biografie der berühmten dänischen Schriftstellerin und Autorin der Kopenhagen-Trilogie in die Hand. Eine Biografie, glänzend übersetzt aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg, die sich spannender liest als so mancher Roman. Wir werfen einen Blick auf die Rückseite …

In der Tat, dem ist nichts hinzuzufügen. Bei Aufbau sind natürlich auch weitere Romane von Ditlevsen erschienen sowie die Kopenhagen-Trilogie auch als Aufbau Taschenbücher. Alles ohne Ausnahme Lesetipps!

Beim Verlag Hermann Schmidt ist uns ein ganz anderes Buch ins Auge gesprungen. Andreas Koop: DDR CI. Titel und Thema mögen anfangs verblüffen. Das Buch selbst jedoch ist eine unglaublich gut recherchierte und strukturierte Analyse der Corporate Identity eines Staatswesens, das vielen von uns immer noch merkwürdig fremd erscheint. Die Idee für ein solches Buch ist schlichtweg genial. Denn wo und wie drückt sich die Identität eines politischen Systems und einer Partei deutlicher aus als in ihren Bildern und fragischen Metaphern? Der Informationsdesigner Koop legt mit diesem fiktiven CI-Manual ein brillantes Werk vor. Und: Er ist Wiederholungstäter!

Das fiktive Corporate Design Manual des real existierenden Sozialismus. Ja, genau das: Lesetipp!

Dreimal sind wir daran vorbeigerannt. Typische Buchmesseblindheit. Aber dann stehen wir endlich vor einem unserer Lieblingsverlage: dem Verlag Klaus Wagenbach. Wer ist noch nicht im lokalen Buchhandel über die legendäre Salto-Reihe gestolpert? Die knallroten Leinenbändchen verführen wie kaum ein anderes Buchformat zum spontanen Zugreifen und Schmökern. Und genau das tun wir nun auch. Jedes der nachfolgend gezeigten Salto-Bändchen empfehlen wir als Lesetipp:

Ljubljana und Slowenien – Eine literarische Einladung in das schreib- und lesefreudige Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Alexandre Labruffe: Erkenntnisse eines Tankwarts

Joke J. Hermsen: Rosa und Hannah – Das Blatt wenden

Dieter Richter: Con gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht

Wir lassen die rote Wand mit den Salto-Bänden rechts liegen und wandern nach links weiter. Gibt’s hier noch etwas zu entdecken? Ja, durchaus …

Marco Missiroli: Alles haben. Rimini im Juni. Ein Vater-Sohn-Roman. Und was für einer. Wie immer werfen wir einen Blick auf die erste Textseite …

Würden wir weiterlesen wollen? Aber ja! Und Ihr? Mit dieser Frage, die wir einfach mal im Raum stehen lassen, weil sie eigentlich für jedes Buch gilt, wenden wir der 75. Frankfurter Buchmesse nun den Rücken zu. Es waren fünf, eigentlich sogar sechs unglaublich intensive Tage. Gefüllt mit vielerlei Erfahrungen, Begegnungen und Erlebnissen, auch Leseerlebnissen. Wir kehren mit einer langen, eigentlich viel zu langen Bücherliste zurück in unser Zuhause.

Wir werfen Jonathan Borofskys Hammering Man einen letzten Blick zu. Er hat sein Hämmern beendet. Die Messe hat ihre Tore geschlossen.

Wir hoffen, es hat Euch Spaß gemacht, dass wir Euer Auge und Ohr auf der Frankfurter Buchmesse waren. Wir werden uns spätestens auf der Leipziger Buchmesse wiedersehen. Und dazwischen gibt’s hier auf cafedigital immer wieder einmal Buchrezensionen und Artikel zu allem, was uns zum Magazin für analoges Leben und digitales Arbeiten macht CU!

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