Auch wenn das neue Jahr vermutlich genauso weitergeht, wie das alte Jahr endete, wünschen wir Euch und uns Zuversicht, Einsicht und Nachsicht im Umgang mit den Menschen und Geschehnissen, die dieses Jahr für uns bereithalten wird. Tut, was Ihr tun könnt, um ihm einen positiven Verlauf zu geben. Und freut Euch auch in 2025 auf kritische Berichterstattung, fundierte Rezensionen und unterhaltsame Reportagen hier im digitalen Café. CU!
Eigentlich wollten wir rechtzeitig zum Weihnachtsfest die üblichen Wünsche an unsere Leserinnen und Leser versenden. Frieden in der Welt, Freundschaft unter den Menschen und die Hoffnung auf ein gutes Leben für alle auf dem engen Erdball. Stattdessen sehen wir uns – ausgelöst durch die Amokfahrt in Magdeburg – in der Pflicht, ein paar Gedanken zu dem Welt- und Menschenbild zu äußern, das derzeit von rechten und leider auch weniger rechten politischen Kreisen verbreitet wird. Ein Faktencheck, der offenbar notwendig ist.
Es ist traurig, mitanzusehen, wie die Faktenlage ignoriert, aktiv geleugnet oder sogar bewusst verbogen wird, um ein Bild unserer bundesdeutschen Gesellschaft zu zeichnen, das mit der Realität nichts mehr zu tun hat.
Und damit sind wir beim Thema Muslime in Deutschland. Beziehungsweise bei der bewussten und mutwilligen Pauschalierung, die jetzt gerade wieder stattfindet. Wobei im Falle des Amokfahrers von Magdeburg in der rechten Wagenburg vollständig ausgeblendet wird, dass der gebürtige Saudi, der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt und als Arzt praktiziert, sich selbst sowohl in einem Interview mit der islamophoben US-amerikanischen RAIR-Foundation (Rise Align Ignite Reclaim) als auch in zahlreichen Social Media Beiträgen als bekennender AfD-Anhänger, Wilmers- und Musk-Fan geoutet hat. Ein saudischer Ex-Muslim, der in Ostdeutschland lebt, die AfD liebt und Deutschland für seine Toleranz gegenüber Islamisten bestrafen will? Nein, dieser Taleb al-abdulmohsen passt in keines der gängigen Muster. Trotzdem wird er von rechten Kreisen fröhlich instrumentalisiert. Ein Grund mehr, dass wir uns einmal anschauen, wie es generell um die tatsächliche Zahl von schweren Straftaten steht, die hierzulande von Migranten begangen werden.
Natürlich blicken wir in den sozialen Medien wie hypnotisierte Kaninchen ausschließlich auf jene Gewaltdelikte, die von Menschen mit Migrationshintergrund begangen werden. Denn nur diese Zahl lässt sich ja instrumentalisieren.
1997 war der Blickwinkel noch medial begrenzt. Die lokale und regionale Tagespresse informierte über das, was sich im unmittelbaren Umfeld zutrug. Die geringe Zahl spektakulärer Gewalttaten schaffte es ins Fernsehen. So weit, so gut.
Die Relation war ein Spiegel der Realität. Doch dann kamen die Sozialen Medien auf. Vermeintlich neutrale Plattformen mächtiger Tech-Konzerne aus den USA und mittlerweile auch aus der VR China. Getrieben von Algorithmen, nur eines sollten: Maximale Verweildauer der User auf der jeweiligen Plattform erzielen. Koste es, was es wolle. Und ja, wer auch immer die Programmierenden waren, sie wussten um die Abgründe der menschlichen Psyche. Das gilt erst recht für die rechten Teams, die nun auf den Plan traten.
Mit den Sozialen Medien traten Gruppierungen unterschiedlichster Couleur auf die Bühne, um die neuen medialen Möglichkeiten für ihre eigenen kruden Interessen zu nutzen. Verschwörungserzähler, die bisher allenfalls ein paar hektisch fotokopierter Flugblätter loswerden konnten, fanden ein breites Publikum. Rechte Parteien nutzten den „bad news are good news“ Kern der Algorithmen, um ihre eigene verquaste und verzerrte Weltsicht als Wirklichkeit zu verkaufen und Angst zu schüren. Eine Angst, die auf den fruchtbaren Boden bestehender Vorurteile fiel. Man musste nur den Blickwinkel ausreichend verengen …
Schaut man durch eine braune Brille auf die Welt, sieht man eben nur Sch****. So wie man durch eine rosarote Brille nur Barbieland sieht. Das eine wie das andere hat mit der Realität, in der wir leben, nichts zu tun. Wichtig ist nur eine einzige Frage: Wem nützt es? Wer will Angst schüren und warum? Diese Frage müssen wir uns jeden Tag aufs Neue stellen. Auch und gerade nach Geschehnissen wie in Magdeburg.
Spätestens nach den Retweets einer rechten, wenn nicht gar neofaschistischen Influencerin durch einen gewissen Silicon-Valley-Multimilliardär sollten wir alle ins Grübeln kommen und hinterfragen, was da getrieben wird. Und unseren Blick zurück auf die Fakten in ihrem Kontext richten. Denn die stehen uns jederzeit zur Verfügung in unserer Demokratie!
Wir bedanken uns bei einem lieben Kollegen, der uns seine Charts für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat und wünschen Euch allen da draußen einen klaren Blick auf die Fakten, Resistenz gegen die grassierenden Lügen und Halbwahrheiten und natürlich ein schönes Weihnachtsfest im Kreis Eurer Lieben und einen guten Rutsch in ein hoffentlich friedvolleres 2025 als dies 2024 war.
Keine Frage, die kleinen, unabhängigen Verlage sind das Salz in der Suppe des Büchermarktes. Oft, nein allzuoft betrieben von Enthusiasten, die mit viel Herzblut und meist dünner Kapitaldecke genau jene Bücher verlegen, die im brodelnden Mainstream der großen, in der Regel konzerngebundenen Publikumsverlage untergehen. Wenn sie überhaupt verlegt würden. Einen dieser Verlage, das Verlagshaus Römerweg in der gleichnamigen Straße in einem Villenviertel Wiesbadens, habe ich kürzlich besucht. Ausgelöst wurde dieser Besuch einerseits durch einen Blick ins überaus spannende und überraschend vielfältige Herbstprogramm 2024 und andererseits durch eine spontane, wechselseitige Kontaktaufnahme via Instagram.
Schon ein erster Blick in den Konferenzraum zeigte (nach freundlichem Empfang an der Eingangstür): Hier werden Bücher gelebt und geliebt – das Haus der schönen Bücher, wie man sich zu Recht selbst bezeichnet. Und was auch sofort offensichtlich war: Das Verlagshaus Römerweg ist tatsächlich kein einzelner, unabhängiger Verlag, der eine Handvoll Bücher im Jahr veröffentlich, sondern eher eine Verlagsgruppe. Ein unabhängiger Verlag mit einer stattlichen Zahl von Imprints und bis zu sechzig Neuerscheinungen jährlich. Alle Achtung! Wie ich später erfahren werde, hat der Verlagsgründer Lothar Wekel das Verlagshaus 2014 als Dach für den 2003 von ihm gegründeten Marix Verlag etabliert, nachdem er in den Folgejahren immer wieder wie die Jungfrau zum Kinde dazu kam, kleine, ebenfalls unabhängige Verlage unter seine Fittiche zu nehmen, als deren Inhaber bspw. mangels Nachfolgeregelung an ihn herantraten, um ihr Lebenswerk zu bewahren. So gehören heutzutage Corso, Edition Erdmann, Marix Verlag, Waldemar Kramer, Weimarer Verlagsgesellschaft und die Berlin University Press zu einem kleinen, feinen Verlagsimperium en miniature, das sich kein bisschen hinter den großen Adressen im Verlagswesen verstecken muss. Am allerwenigsten, was die literarische Qualität und die physische Ausstattung seiner Produkte angeht.
Ich unterhalte mich lange mit Karina Bertagnolli, der Gattin des Verlagsgründers, die unter anderem für das Design und die Ausgestaltung der Bücher verantwortlich zeichnet – ein besonders schönes Beispiel ist die spezielle Klappenbroschur einiger Bücher des Verlagshauses –, sich aber auch um PR- und Pressearbeit kümmert. Ich staune, was sich da in wenig mehr als zwanzig Jahren aus einer ursprünglich privaten Sammelleidenschaft für Literatur entwickelt hat. Und das praktisch vor meiner Haustür, keine fünfzehn Fahrminuten entfernt.
Bei näherem Hinschauen findet sich Erstaunliches in den Regalen. Ganz neu zum Beispiel der erstmalig ins Deutsche übersetzte Roman der sardischen Schriftstellerin Grazia Deledda„Blicke der Liebe und des Leids“. Einer der Romane, der ihr 1926 den Literaturnobelpreis einbrachte, als erster und bis heute einziger italienischen Autorin. Dass Deledda damit endlich auch in Deutschland aus dem Reich des Vergessens gerissen wird, ist nicht zuletzt der herausgebenden und -ragenden Dramaturgin, Kuratorin und Übersetzerin Klaudia Ruschkowskizu verdanken, die eine ganze Reihe bedeutender italienischer Schriftstellerinnen für das Verlagshaus entdeckt und ins Deutsche übersetzt hat.
Eine weitere Perle im Programm, wie mir Bertagnolli versichert, sei „Weisses Harz“ (hier besprochen im Podcast „Lesart“) der frankokanadischen Schriftstellerin Audrée Wilhelmy. Ein exemplarisches Beispiel für die hohe Kunst des im angloamerikanischen Sprachraum verbreiteten und beliebten Nature Writing. Etwas, was ich hierzulande außer vielleicht in Büchern, die bei Matthes & Seitz verlegt wurden, in dieser Entwicklungsstufe noch nicht lesen durfte. Es war praktisch unvermeidbar, dass ich dieses Buch mitnahm, um es demnächst hier im digitalen Café ausführlich zu rezensieren. Ich hoffe, dabei auch als Autor noch etwas hinzuzulernen. Schließlich spielen meine eigenen Thriller um John Kaunak im abtauenden Eis der Arktis und müssen allein schon aufgrund der exotischen Location ein gewisses Maß an Nature Writing beinhalten, um die Leserinnen und Leser in die Geschichte hineinzuziehen.
Ich lasse den Blick erneut rundum schweifen. Regale über Regale. Verblüffend für ein Verlagshaus, das lediglich von einer Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Leben erhalten wird, ist die Fülle und Vielfalt des Programms der insgesamt sechs Imprints. Allein die Sachbücher: Von Otfried Höffes „Immanuel Kant heute“ über Giuliano Turones„Geheimsache Italien“ bis zu Kipkers und Venske-Caprareses„Realitäten in der Virtualität“ … das ist weiß Gott ein breites Spektrum. Wobei mir freundlicherweise – als intensiv KI-Interessiertem – letzteres Buch zum Abschied meiner kleinen Verlagsbegehung in die Hand gedrückt wurde. Ich werde es gern lesen und ebenfalls im digitalen Café besprechen.
Zusammenfassend darf ich sagen: Ich bin beeindruckt von dem, was ich in Wiesbaden gehört und gesehen habe. Solange wir hier in Deutschland unabhängige, inhabergeführte Verlage wie das Verlagshaus Römerweg haben, mache ich mir um die Vielfalt und Qualität des literarischen Angebots keine Sorgen. Auch wenn ich weiß, wie prekär die finanzielle Lage vieler Independents in diesen Zeiten ist. Ich kann nur die Daumen drücken und Christoph Sieber zitieren: Weitermachen, weitermachen, weitermachen!
(Copyright aller Fotos liegt beim Autor Roland Müller)
Kommentare deaktiviert für Ein Hoch auf die Unabhängigkeit!
Nachdem heutzutage so ziemlich alles in einer „to go“ Version daherkommt, warum nicht auch Gefühle, große Gefühle sogar? Passenderweise im an eine Werkzeugkiste erinnernden Tragekarton. Schließlich ist gefühlsfokussierte Literatur für Heranwachsende (neudeutsch New Adult) genau das: Werkzeug und Lesezeug zum Bed- und Verarbeiten der eigenen, unterdrückten oder überbordenden (je nachdem) Gefühle und Stimmungen.
Apropos Gefühle: Beim SYNDIKAT, dem Verein der ausgelassen feiernden, schriftstellernden Kriminellen, äh, dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur, ging’s mal wieder hoch her. Okay, ich habe gut reden; ich bin ja erst seit kurzem Mitglied. Aber ich will mir gar nicht ausmalen, was auf der nächsten CRIMINALE alles passieren mag.
Sebastian Fitzeks neuestem Wurf, dem „Kalendermädchen“, hat der Verlag eine eigene, aufwändige Installation gewidmet, inklusive Selfiemöglichkeit. Soweit ich gehört habe, gab es tatsächlich Überlebende. Diesmal. Bei seiner Signierstunde im vergangenen Jahr konnte man sich da nicht so sicher sein.
Eigentrlich eine schöne Serie, die sich Hanser Berlin da ausgedacht hat. Allerdings stelle ich mir die Frage, ob die Reihenfolge richtig gewählt ist. Logischer erschiene mir SCHLAFEN, LIEBEN, STREITEN, ALTERN?
Im Display gefällt mir das schon besser. Zumal es für ein längeres Leben spricht, das zudem positiv und hoffnungsvoll endet: Altern, Altern, Altern, Altern, Altern, Schlafen, Lieben, Lieben, Lieben, Streiten, Streiten, Lieben, Schlafen, Lieben, Streiten, Lieben, Streiten, Schlafen, Lieben. Das nenne ich mal altersgerecht!
Auch in diesem letzten Beitrag von der diesjährigen Buchmesse wollen wir Euch noch mit ein paar Lesetipps malträtieren. Zuerst etwas Gewichtigeres: „Die Eisenbahnen Mexikos“ von Gian Marco Griffi.
Eine fulminante, vor schrägen Ideen sprudelnde Abenteuerreise, entstanden während der Corona-Zwangspause, absurd, witzig, sehr gut übersetzt und ein großer Lesespaß gerade in den aktuellen italienischen Zeiten. Lesetipp Nummer 16 (habe ich mich verzählt? Nein? Gut).
Ach ja, wir leben (mal wieder) in einer Zeit, die sich nach Helden sehnt. Genaugenommen nach Heldinnen, aber das ist eine andere Geschichte. Nachdem Frank Schätzing sich (meine Vermutung und natürlich völlig haltlos) von seinem derzeitigen Verlag überreden ließ, sein erfolgreiches Romandebüt „Tod und Teufel“ (1995 erstmals bei Emons verlegt) zu einer Trilogie auszubauen, ist die Cover-Präsenz von „Helden“ auf dieser Messe geradezu übermächtig. Nicht nur in den Regalen und auf der Bühne von ARD/ZDF/3sat …
Sondern auch draußen auf der Agora. Ein Schätzing fast auf Augenhöhe mit dem Kölner Dom, sorry, dem Messeturm. Wir sind ja hier in Frankfurt.
Wo wir nun schon mal wieder draußen herumirrten, schafften wir es gerade noch rechtzeitig, dem Frankfurt Pavillon einen Besuch abzustatten. Zumal das filigrane Riesenei, dass die Architektur da mitten zwischen den Messehallen ausgebrütet hat, ein sehr spannendes Thema anbot:
Das Panel bestand aus vier Menschen, die wir jeden für sich besonders schätzen und teils sogar penetrant auf BookTok folgen. Knut Cordsen und sein Sidekick Miriam Fendt (Entschuldigung, nein, Miriam ist kein Sidekick, sondern eine mehr als adäquate Partnerin) von Literally. Dann @yannik s., der sympathische BookToker, der für den abwesenden Ole Liebl eingesprungen ist (gute Performance!) sowie Dr. Johannes Hilje, einer der bestvernetzten Politik- und Kommunikationsberater der Republik.
Das Thema des BookTok-Panels versprach einige Brisanz, und soviel können wir sagen: Die 50 Minuten Talk hielten, was das Thema versprach. Und wie erwartet lautet die Antwort auf die plakative Frage, unter der die Veranstaltung angekündigt worden war: Jein!
Nachdem sich der recht beliebte Phoenix-Podcast „Denken mit Kinnert und Welzer“ gerade auf der ARD/ZDF/3sat-Bühne materialisierte, legten wir eine kurze Pause ein, um den Erkenntnissen der ewigen Jung-Unternehmerin und -Politikerin Diana Kinnert und dem oft utopisierenden Soziologen Harald Welzer zu lauschen. Alles bisherigen Podcasts des Duos finden sich übrigens hier! Oft hörenswert.
Zurück in Halle 3 wird’s an diesem Sonntagnachmittag zusehens voller. Bei Taschen sowieso, und das nicht nur wegen dem Eyecatcher „Berlin, Berlin“ von Helmut Newton. Einmal mehr ist der Taschen-Stand (was für ein Wort!) einer der bestgestalteten der Messe. Kennt man ja.
Wir schieben uns auf der Suche nach den letzten Lesetipps weiter durch fröhliche Gewühl und danken den Messegöttern für die in diesem Jahr erstmal doppeltbreiten Hauptgänge. So, lieber Herr Boos, hätten wir uns das schon früher gewünscht. Soll mal einer sagen, der Hype um New Adult hätte nicht seine guten Seiten.
Mit „Favorita“ von Michelle Steinbeck (Schweizerin und weder verwandt noch verschwägert mit dem großen John Steinbeck) treffen wir auf ein würdiges Werk. Würdigungen und Interviews gibt’s da draußen schon genug. Die hier, diese oder diese. Wir sparen uns das also.
Und ja, Ihr vermutet richtig. Dieser Roman ist ein echter Pageturner und unser Lesetipp Nummer 17.
Ideal für zwischendurch, weil in handliche Kapitelchen gegliedert und trotzdem profund literarisch fällt uns am Stand der Aufbau Verlage „111 Action Szenen der Weltliteratur“ in die lesehungrigen Finger (geht das?). Als Nr. 477 der wunderbaren Anderen Bibliothek, die erst seit kurzer Zeit zu Aufbau gehört, lernen wir hier eine große Zahl renommierter Literaten von einer ganz anderen Seite kennen. Spannend: Aus mancher der geschilderten, ihnen zugestoßenen Begebenheiten/Actionszenen hätte man durchaus auch schriftstellerisch Honig saugen können. Lesetipp Nummer 18, perfekt für zwischendurch.
Natürlich kann es eingedenk unseres Alters nicht ausbleiben, dass wir uns auch in „Honey“ verliebt haben, Victor Lodatos Hymne auf eine alte Dame von bemerkenswerter … ja was? Lebenslust, Weisheit, Resilienz? Alls das und noch viel mehr. Wunderbar zu lesen. Ergo: Lesetipp Nummer 19!
Zurück bei Klett Cotta – mittlerweile qält uns der Durst, kein Wunder bei der trockenen Luft in den Messehallen – wären wir natürlich begeistert, zu „Trinken wie ein Dichter“. Am besten alle 99 Drinks.
Und am liebsten mit den Verursachern der Rezepturen. Wirklich schade, dass das leider nekrophile Züge annehmen würde. Denn die Toten trinken nicht mehr.
Nicht wirklich erstaunlich ist die Trinkfreude der im Buch versammelten Literaten. Es soll auch heutzutage noch Autor:innen geben, die … aber lassen wird das und genießen einfach diesen 20. Lesertipp.
Einigermaßen geschafft von einem erneut langen Messetag machen wir uns final auf in Richtung Halle 1.2 – dumm nur, dass wir dazu an Bärbel Schäfers Bücher Talk vorbei müssen. Die sich redlich müht, einen gewissen alten Herrn im Zaum zuhalten, der sich seit Jahrzehnten in den gleichen patriachalen Posen gefällt. Müßig, zur Person Thomas Gottschalk noch weitere Worte zu verlieren. Und auch keine Links zu Person oder Verlag. Wir haben ihn vor ewigen Jahren mal auf einer Agenturfeier erlebt. Eine prägende Erfahrung bis heute. Dummerweise besteht heutzutage die Gefahr, dass seine Statements Wasser auf die Mühlen gewisser blauer Kreise sind. Also schnell weg hier!
Halle 1.2 am Sonntag. Endlich prall gefüllt. Das Mekka und Medina der New Adult Szene. Der Ort, an dem die dunkelsten Dark Romantasy Träume wahr werden. Wieso sind wir eigentlich hier? Na klar, wegen einem Buch …
Nämlich diesem hier: „Eine Zeit in Orangen“ von Carolin Lüdemann. History Romance, angenehm slow burning, zu finden am Stand des Selfpublishing Verbands. Und online auf den bekannten Portalen. Ein spannendes Set-up, interessante und unerwartet klischeeferne Protagonist:innen und eine exzellent recherchierter Unterbau einer Geschichte, bei der es um Düfte geht und ihre oft unerklärlich unwiderstehliche Anziehungskraft. Unser finaler 21. Lesetipp des diesjährigen FBM-Round-ups. Puh! Apropos Düfte, was ist das …?
Ah, wier schön. Die Quelle des intensiven Popcorn-Dufts, der um die Stände in Halle 1.2 wabert, nennt sich Nerdbar und kommt kaum nach mit dem Nachschub der Rohstoffe. Schöne Idee!
Eine Viertelstunde später stehen wir wieder draußen im nachmittaglichen Nebel, der beginnt, die Mainmetropole und ihre Wahrzeichen einzuhüllen. Was für ein passendes Schlussbild für diesen unseren letzten Berichtstag. Wie nach jeder Buchmesse bleibt die Zukunft von Autor:innen, Verlagen und Büchern im Nebel. Das einzige, was schon jetzt sicher ist: Im nächsten Jahr heißt der Ehrengast: Philippinen. Und natürlich werden wir alles wieder mit launigen Kommentaren und vielen Lesetipps begleiten.
Sollte Euch unser fünfteiliger Rundgang über die 76. Frankfurter Buchmesse gefallen haben, dann empfehlt uns gerne weiter. Schaut ab und zu mal rein ins digitale Café und freut Euch schon jetzt auf die Leipziger Buchmesse im März 2025. Denn auch von der werden wir wieder berichten. CU!
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Nachdem wir immer noch ein wenig unter einer Art negativem Kulturschock stehen nach unserem gestrigen Besuch im Pavillon des Ehrengasts Italien, wollen wir unsere Eindrücke heute konterkarieren mit einer Würdigung jener italienischen Literatur, die uns auf der Frankfurter Buchmesse besonders aufgefallen ist. Dass viele unsere Empfehlungen und Lesetipps sich um die Bearbeitung und Verarbeitung des italienischen Faschismus drehen, ist vermutlich besagtem gestrigen Eindruck geschuldet. Aber nicht nur. Denn Vieles ist schlicht gute, sogar große Literatur.
Beginnen wollen wir aber mit einer anderen Entdeckung, die wir mehr oder weniger zufällig auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage gemacht haben: Donatella Di Pietrantonias„Die zerbrechliche Zeit“, erschienen im Verlag Antje Kunstmann, kongenial übersetzt von Anja Pflug und bei obiger Lesung moderiert von Stefan Brückl. Ein leises Buch. Ein Ausflug zurück inder Zeit und mittenn hinein in eine abgelegene Dorfgemeinschaft in den Abruzzen. Vordergründig dreht es sich um ein Mutter-Tochter-Verhältnis. Allerdings eines in einer abgeschlossenen, ihren eigenen Regeln folgenden Dorfgemeinschaft. Faszinierend beschrieben und von einer tiefen Kraft durchzogen. Die Art und Weise, die Autorin die Tiefen und Abgründe ihrer Figuren auslotet ohne Wertung, mitten in ihrem Sein, das ist große Literatur. Ergo: Unser sechster Lesetipp!
Wunderbar! Bei Klett Cotta werden wir ohne langes Suchen fündig in Sachen italienischer Gegenwartsliteratur. Den der Verlag publiziert die deutschen Ausgaben von Antonio Scuratis in Italien berühmten und prämierten Bestsellerromanen um Aufstieg und Fall des Faschismus der Schwarzhemden unter Benito Mussolini. Keine Sachbücher, wie man meinen könnte, sondern veritable und sehr umfangreiche Romane in toller Ausstattung und gnadenlos gutem Coverdesign.
Darüber finden wir im gleichen Regal ein wesentlich dünneres Paperpack mit dem Titel „Faschismus und Populismus“ – dem Abdruck einer Rede, in der Scurati an der Universität Mailand den immer salonfähigeren Populismus der postfaschistischen Jetztzeit demaskiert hat. Vorm Einstieg in sein großes Romanwerk unbedingt lesenswert: Siebte Leseempfehlung!
Mit „M – Der Sohn des Jahrhunderts“ haben wir den schwergewichtigen ersten Band des italienischen Bestsellerautors in Händen. Auch inhaltlich ein Schwergewicht. Zudem ausgezeichnet mit Italiens höchstem Literaturpreis, dem Premio Strega …
Nur sechs Jahre benötigte Benito Mussolini, um seine Interpretation von Faschismus zur italienischen Staatsdoktrin zu erheben. Dass sich Antonio Scurati entgegen sonstiger akademischer Gepflogenheiten entschieden hat, seine Erkenntnisse in eine belletristische Form zu gießen, gibt seinen Büchern nur um so mehr Wucht. Auch sprachlich und literarisch …
Bereits die erste Textseite in diesem ersten Band macht dies deutlich. Die Schilderung setzt ein unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges.
Band 2 „M – Der Mann der Vorsehung“ kommt passenderweise in Schwarz daher und der Person Benito Mussolini noch näher. Auch hier beeindruckt die übrigens exzellente Übersetzung von Scuratis bildstarker Sprache.
Es bleibt uns alsio nichts übrig, als alle vier Bände als unseren achten Lesetipp zu deklarieren!
Mein Gott, mögt Ihr sagen, geht’s nicht auch ein bisschen leichtgewichtiger? Immerhin reden wir doch hier über Italien. Natürlich nehmen wir uns das zu Herzen und eilen flugs hinüber zum Stand unseres Lieblingsverlages (naja, neben Diogenes und Aufbau natürlich): dem Klaus Wagenbach Verlag. Hier hegt man schon traditionell jede Menge klassischer und zeitgenössischer italienischer Literatur im Programm. Moravia, Pasolini, Bassani, Camilleriund wie sie alle heißen.
Wir können es Euch nicht ersparen, aus dem breit aufgestellten Italienreigen erneut ein Buch herauszupicken, dass sich mit dem italienischen Faschismus beschäftigt. Diesmal aus einer intimeren, persaönlicheren und gerade deswegen besonders gruseligen Sicht. Die Historikerin Victoria de Grazia erzählt in „Der perfekte Faschist“ Aufstieg und Fall von Attilio Teruzzi, einem Militär und Mussolini-Vertrauten, der in den 1920er Jahren die amerikanische Opernsängerin und Jüdin Lilliana Weinman heiratete; eines Mannes, der sich aus eiskalter Berechnung ganz und gar in den Dienst der Faschisten stellte. Ein erzählendes Sachbuch, zugleich Faschismusanalyse, menschliches Drama und Gesellschaftsepos einer beklemmend nahen Zeit. Unser Lesetipp Nummer Neun.
Leichte Kost bitte! Sorry, hatten wir fast vergessen. Obwohl Wagenbach auch da einiges zu bieten hat. Zum Besipiel vom Meister selbst, dem bekennenden und leider 2021 verstorbenen Italienliebhaber Klaus Wagenbach. „Mein Italien kreuz und quer“, erneut aktualisiert, ist ein wunderbarer Reise-, nein Lebensführer durch Italiens Regionen, in dem Autorinnen und Autoren von seinen Landschaften, Städten und Menschen erzählen.
Ein handliches Büchlein, das aus berufenen Mündern Lust darauf macht, mal wieder hinzufahren und selbst zu entdecken, was den Reiz des Ehrengastes der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ausmacht. Deshalb Lesetipp Nummer zehn.
Es sind diese italienischen Momente im Leben … Wie sie beispielsweise Paolo Nori in seinem schmalen Band „Weg ist sie!“ launig und selbstironisch schildert. Natürlich ebenfalls bei Wagenbach erschienen. Und im Original bereits fast ein Vierteljahrhundert alt.
Die fast nackte Rückseite des schmnalen Romans hätte durchaus einen ausführlicheren Klappentext verdient. Obwohl bereits der Titel eine Menge Leichtigkeit des Italienischseins verspricht. Worum geht’s? Um einen minimalistischen Bildungsroman von gerade mal 155 Seiten. Kein Enrico Brizzi oder Guiseppe Culicchia. Aber durchaus vergnüglich zu lesen, wenn man einen 35-Jährigen in all seinen Unsicherheiten begleiten mag. Die perfekte Lektüre für zwischendurch. Aber leider ein bisschen zu dünn für einen handfesten Lesetipp. Und ja, zugegeben, derzeit auch nicht lieferbar.
Ganz im Gegensatz zu Massimo Montanaris„Spaghetti al pomodoro“, einem Büchlein aus Wagenbachs wunderbaren Salto-Reihe, das uns den Mythos der italienischen Pasta aus Sicht eines Historikers näherbringt. Das ist so lecker aufbereitet, dass wir gar nicht anders können, als darin unseren elften Lesetipp zu sehen!
Und natürlich muss aus dem Land von amore auch große Gefühlsliteratur kommen, keine Frage. Und das mit einigem literarischem Anspruch. Wer könnte da geeigneter sein als die unvergleichliche Susanna Tamaro, die wie kaum eine zweite italienische Autorin die Höhen und Tiefen des Gefühlslebens auszuloten weiß.
Oft mit einer genialen Melancholie versehen, oft auch personifiziert in starken Frauenfiguren. Beispielsweise in ihrem neuesten, bei Nagel und Kimiche (also unter dem Blanvalet-Dach) erschienenen Roman „Der Wind weht, wohin er will“.
Es bereitet großes Lesevergnügen, die Heldin dieses Romans, die Ü60 Chiara dabei zu begleiten, wie sie in ihrem bisherigen Leben reinen Tisch macht. Ein sehr poetisches Buch, das ganz sicher zum Nachdenken über die eigenen Beziehungen und Bindungen anregt. Unser zwölfter Lesetipp.
Übrigens ist das nicht der einzige der mehr als 30 Romane aus Susanna Tamaros Feder, der auf deutsch erschienen ist. Bei HarperCollins wird beispielsweise auch „Geschichte einer großen Liebe“verlegt. 2022 erschienen war dies ihr 34. Roman. Er erzählt sehr poetisch, durchaus melancholisch die tiefe, aber auch mit Schmerzen und Missverständnissen verbundene Liebe zweier höchst unterschiedlicher Menschen, die sich auf einer Fähre von Venedig und Piräus begegnen. Großes Gefühlskino und auf eine Weise wahrhaftig, wie es die Literaturkritik mitunter nur schwer zu verdauen mag. Vielleicht erklärt die Tatsache, dass TamaroAsperger diagnostiziert bekam, ihre sehr besondere, ungefilterte Art des Schreibens. Lesetipp Nummer 13 für Freunde gut geschriebener Liebesromane.
Das glatte Gegenteil dazu finden wir beim Aufbau Verlag. Hier ist mit „Lied eines Mörders“ von Giosue Calaciura ein Roman erschienen, der in seiner Kälte und Unzweideutigkeit schaudern lässt.
Ein Mafiakiller offenbart einem Richter im persönlichen Gespräch die Details seiner Karriere. Muss man mehr dazu sagen? Nein, nur lesen! Als unseren vierzehnten Lesetipp!
Und weil es uns geradezu eine Brücke baut, legen wir mit einem Buch nach, das das große Thema Mafia, italienische Politik und italienische Gesellschaft meisterhaft bearbeitet und auseinanderpflückt. „Falcone“ von Roberto Saviano, erschienen bei Hanser, beschreibt minuziös das Leben und natürlich auch das Ende von Italiens berühmtesten Mafiajäger. Und ja, der Autor ist genau jener, den die Meloni-Regierung nicht zur Frankfurter Buchmesse eingeladen hatte. Ein Schelm, wer dabei an Berechnung denkt.
Keine Diskussion, das ist ein Buch, wie es aktueller kaum sein könnte und damit ganz klar unser Lesetipp Nummer 15!
Wir denken, mit diesem kleinen Aufgalopp durch das Angebot lesenswerter italienischer Literatur der Gegenwart haben wir Euch genau das Lesefutter geliefert, das die goldene Hand des Postfaschismus (ja, genau so empfinden wir sie) Euch versucht hat vorzuenthalten.
Wir wünschen Euch großes Lesevergnügen und werden uns morgen noch einmal mit einer kurzen Nachlese kleiner Beobachtungen am Rande der 76. Frankfurter Buchmesse melden. Bleibt uns gewogen bis dahin!
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