Tag 4 der FBM 2024: Italien-Lese
Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 19. Oktober 2024 | 21:05:04 | Roland Müller
Nachdem wir immer noch ein wenig unter einer Art negativem Kulturschock stehen nach unserem gestrigen Besuch im Pavillon des Ehrengasts Italien, wollen wir unsere Eindrücke heute konterkarieren mit einer Würdigung jener italienischen Literatur, die uns auf der Frankfurter Buchmesse besonders aufgefallen ist. Dass viele unsere Empfehlungen und Lesetipps sich um die Bearbeitung und Verarbeitung des italienischen Faschismus drehen, ist vermutlich besagtem gestrigen Eindruck geschuldet. Aber nicht nur. Denn Vieles ist schlicht gute, sogar große Literatur.
Beginnen wollen wir aber mit einer anderen Entdeckung, die wir mehr oder weniger zufällig auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage gemacht haben: Donatella Di Pietrantonias „Die zerbrechliche Zeit“, erschienen im Verlag Antje Kunstmann, kongenial übersetzt von Anja Pflug und bei obiger Lesung moderiert von Stefan Brückl. Ein leises Buch. Ein Ausflug zurück inder Zeit und mittenn hinein in eine abgelegene Dorfgemeinschaft in den Abruzzen. Vordergründig dreht es sich um ein Mutter-Tochter-Verhältnis. Allerdings eines in einer abgeschlossenen, ihren eigenen Regeln folgenden Dorfgemeinschaft. Faszinierend beschrieben und von einer tiefen Kraft durchzogen. Die Art und Weise, die Autorin die Tiefen und Abgründe ihrer Figuren auslotet ohne Wertung, mitten in ihrem Sein, das ist große Literatur. Ergo: Unser sechster Lesetipp!
Wunderbar! Bei Klett Cotta werden wir ohne langes Suchen fündig in Sachen italienischer Gegenwartsliteratur. Den der Verlag publiziert die deutschen Ausgaben von Antonio Scuratis in Italien berühmten und prämierten Bestsellerromanen um Aufstieg und Fall des Faschismus der Schwarzhemden unter Benito Mussolini. Keine Sachbücher, wie man meinen könnte, sondern veritable und sehr umfangreiche Romane in toller Ausstattung und gnadenlos gutem Coverdesign.
Darüber finden wir im gleichen Regal ein wesentlich dünneres Paperpack mit dem Titel „Faschismus und Populismus“ – dem Abdruck einer Rede, in der Scurati an der Universität Mailand den immer salonfähigeren Populismus der postfaschistischen Jetztzeit demaskiert hat. Vorm Einstieg in sein großes Romanwerk unbedingt lesenswert: Siebte Leseempfehlung!
Mit „M – Der Sohn des Jahrhunderts“ haben wir den schwergewichtigen ersten Band des italienischen Bestsellerautors in Händen. Auch inhaltlich ein Schwergewicht. Zudem ausgezeichnet mit Italiens höchstem Literaturpreis, dem Premio Strega …
Nur sechs Jahre benötigte Benito Mussolini, um seine Interpretation von Faschismus zur italienischen Staatsdoktrin zu erheben. Dass sich Antonio Scurati entgegen sonstiger akademischer Gepflogenheiten entschieden hat, seine Erkenntnisse in eine belletristische Form zu gießen, gibt seinen Büchern nur um so mehr Wucht. Auch sprachlich und literarisch …
Bereits die erste Textseite in diesem ersten Band macht dies deutlich. Die Schilderung setzt ein unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges.
Band 2 „M – Der Mann der Vorsehung“ kommt passenderweise in Schwarz daher und der Person Benito Mussolini noch näher. Auch hier beeindruckt die übrigens exzellente Übersetzung von Scuratis bildstarker Sprache.
Es bleibt uns alsio nichts übrig, als alle vier Bände als unseren achten Lesetipp zu deklarieren!
Mein Gott, mögt Ihr sagen, geht’s nicht auch ein bisschen leichtgewichtiger? Immerhin reden wir doch hier über Italien. Natürlich nehmen wir uns das zu Herzen und eilen flugs hinüber zum Stand unseres Lieblingsverlages (naja, neben Diogenes und Aufbau natürlich): dem Klaus Wagenbach Verlag. Hier hegt man schon traditionell jede Menge klassischer und zeitgenössischer italienischer Literatur im Programm. Moravia, Pasolini, Bassani, Camilleri und wie sie alle heißen.
Wir können es Euch nicht ersparen, aus dem breit aufgestellten Italienreigen erneut ein Buch herauszupicken, dass sich mit dem italienischen Faschismus beschäftigt. Diesmal aus einer intimeren, persaönlicheren und gerade deswegen besonders gruseligen Sicht. Die Historikerin Victoria de Grazia erzählt in „Der perfekte Faschist“ Aufstieg und Fall von Attilio Teruzzi, einem Militär und Mussolini-Vertrauten, der in den 1920er Jahren die amerikanische Opernsängerin und Jüdin Lilliana Weinman heiratete; eines Mannes, der sich aus eiskalter Berechnung ganz und gar in den Dienst der Faschisten stellte. Ein erzählendes Sachbuch, zugleich Faschismusanalyse, menschliches Drama und Gesellschaftsepos einer beklemmend nahen Zeit. Unser Lesetipp Nummer Neun.
Leichte Kost bitte! Sorry, hatten wir fast vergessen. Obwohl Wagenbach auch da einiges zu bieten hat. Zum Besipiel vom Meister selbst, dem bekennenden und leider 2021 verstorbenen Italienliebhaber Klaus Wagenbach. „Mein Italien kreuz und quer“, erneut aktualisiert, ist ein wunderbarer Reise-, nein Lebensführer durch Italiens Regionen, in dem Autorinnen und Autoren von seinen Landschaften, Städten und Menschen erzählen.
Ein handliches Büchlein, das aus berufenen Mündern Lust darauf macht, mal wieder hinzufahren und selbst zu entdecken, was den Reiz des Ehrengastes der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ausmacht. Deshalb Lesetipp Nummer zehn.
Es sind diese italienischen Momente im Leben … Wie sie beispielsweise Paolo Nori in seinem schmalen Band „Weg ist sie!“ launig und selbstironisch schildert. Natürlich ebenfalls bei Wagenbach erschienen. Und im Original bereits fast ein Vierteljahrhundert alt.
Die fast nackte Rückseite des schmnalen Romans hätte durchaus einen ausführlicheren Klappentext verdient. Obwohl bereits der Titel eine Menge Leichtigkeit des Italienischseins verspricht. Worum geht’s? Um einen minimalistischen Bildungsroman von gerade mal 155 Seiten. Kein Enrico Brizzi oder Guiseppe Culicchia. Aber durchaus vergnüglich zu lesen, wenn man einen 35-Jährigen in all seinen Unsicherheiten begleiten mag. Die perfekte Lektüre für zwischendurch. Aber leider ein bisschen zu dünn für einen handfesten Lesetipp. Und ja, zugegeben, derzeit auch nicht lieferbar.
Ganz im Gegensatz zu Massimo Montanaris „Spaghetti al pomodoro“, einem Büchlein aus Wagenbachs wunderbaren Salto-Reihe, das uns den Mythos der italienischen Pasta aus Sicht eines Historikers näherbringt. Das ist so lecker aufbereitet, dass wir gar nicht anders können, als darin unseren elften Lesetipp zu sehen!
Und natürlich muss aus dem Land von amore auch große Gefühlsliteratur kommen, keine Frage. Und das mit einigem literarischem Anspruch. Wer könnte da geeigneter sein als die unvergleichliche Susanna Tamaro, die wie kaum eine zweite italienische Autorin die Höhen und Tiefen des Gefühlslebens auszuloten weiß.
Oft mit einer genialen Melancholie versehen, oft auch personifiziert in starken Frauenfiguren. Beispielsweise in ihrem neuesten, bei Nagel und Kimiche (also unter dem Blanvalet-Dach) erschienenen Roman „Der Wind weht, wohin er will“.
Es bereitet großes Lesevergnügen, die Heldin dieses Romans, die Ü60 Chiara dabei zu begleiten, wie sie in ihrem bisherigen Leben reinen Tisch macht. Ein sehr poetisches Buch, das ganz sicher zum Nachdenken über die eigenen Beziehungen und Bindungen anregt. Unser zwölfter Lesetipp.
Übrigens ist das nicht der einzige der mehr als 30 Romane aus Susanna Tamaros Feder, der auf deutsch erschienen ist. Bei HarperCollins wird beispielsweise auch „Geschichte einer großen Liebe“ verlegt. 2022 erschienen war dies ihr 34. Roman. Er erzählt sehr poetisch, durchaus melancholisch die tiefe, aber auch mit Schmerzen und Missverständnissen verbundene Liebe zweier höchst unterschiedlicher Menschen, die sich auf einer Fähre von Venedig und Piräus begegnen. Großes Gefühlskino und auf eine Weise wahrhaftig, wie es die Literaturkritik mitunter nur schwer zu verdauen mag. Vielleicht erklärt die Tatsache, dass Tamaro Asperger diagnostiziert bekam, ihre sehr besondere, ungefilterte Art des Schreibens. Lesetipp Nummer 13 für Freunde gut geschriebener Liebesromane.
Das glatte Gegenteil dazu finden wir beim Aufbau Verlag. Hier ist mit „Lied eines Mörders“ von Giosue Calaciura ein Roman erschienen, der in seiner Kälte und Unzweideutigkeit schaudern lässt.
Ein Mafiakiller offenbart einem Richter im persönlichen Gespräch die Details seiner Karriere. Muss man mehr dazu sagen? Nein, nur lesen! Als unseren vierzehnten Lesetipp!
Und weil es uns geradezu eine Brücke baut, legen wir mit einem Buch nach, das das große Thema Mafia, italienische Politik und italienische Gesellschaft meisterhaft bearbeitet und auseinanderpflückt. „Falcone“ von Roberto Saviano, erschienen bei Hanser, beschreibt minuziös das Leben und natürlich auch das Ende von Italiens berühmtesten Mafiajäger. Und ja, der Autor ist genau jener, den die Meloni-Regierung nicht zur Frankfurter Buchmesse eingeladen hatte. Ein Schelm, wer dabei an Berechnung denkt.
Keine Diskussion, das ist ein Buch, wie es aktueller kaum sein könnte und damit ganz klar unser Lesetipp Nummer 15!
Wir denken, mit diesem kleinen Aufgalopp durch das Angebot lesenswerter italienischer Literatur der Gegenwart haben wir Euch genau das Lesefutter geliefert, das die goldene Hand des Postfaschismus (ja, genau so empfinden wir sie) Euch versucht hat vorzuenthalten.
Wir wünschen Euch großes Lesevergnügen und werden uns morgen noch einmal mit einer kurzen Nachlese kleiner Beobachtungen am Rande der 76. Frankfurter Buchmesse melden. Bleibt uns gewogen bis dahin!