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Frankfurter Buchmesse 2013 (4): Digitales und Analoges

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Literatur, Medien | 13. Oktober 2013 | 21:22:05 | Roland Müller

Aufmacher4

Zwei Prozent weniger Besucher als bei der sehr erfolgreichen letztjährigen Frankfurter Buchmesse, dafür aber viele zufriedene Gesichter bei Verlagen und Autoren. Das Buchgeschäft brummt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die überwiegende Mehrzahl der Verleger sich besonnen hat, E-Books als selbstverständliche zusätzliche Darreichungsart für mobile Leser in ihr Geschäftsmodell zu integrieren.Daneben und darüber hinaus etablieren sich aber auch immer mehr Book-on-demand Anbieter zur Befriedigung der persönlichen Eitelkeit jener Autoren, die aufgrund ihres sehr speziellen gewählten Themas, einer geringen allgemeinen Vermarktungsfähigkeit oder nicht ganz ausreichender textlicher Qualität im herkömmlichen Verlagswesen keine Heimat finden…

56_BasteiLuebbeAcademy

Es gibt allerdings auch Verlage wie der gerade an die Börse gegangene Bastei Lübbe Verlag, die mit eigenen Angeboten auch diese Klientel für sich kommerziell erschließen wollen. Mit der Bastei Lübbe Academy bietet der Verlag interessierten Amateuren selbstverständlich kostenpflichtige Schreibseminare an, die „ihnen die Chance geben ihr Talent zu entdecken und weiterzuentwickeln“. Fein ausgedacht und eines börsennotierten Verlages würdig, der natürlich qua Shareholder-value genötigt ist, alles zu Geld zu machen, was sich zu Geld machen lässt. Unser Tipp für Nachwuchsautoren wäre, sich diese Ausgabe zu sparen und stattdessen den Newsletter ‚The Tempest‘ des Autorenforums zu abonnieren. Nirgendwo sonst im deutschen Sprachraum kann man soviel dazulernen, was das Schreiben angeht.

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Danach kann man sein Manuskript dann entweder einem Agenten oder mit deutlich geringeren Chancen direkt einem Verlag anbieten. Oder, wenn beides nicht klappt, sich an BoD wenden, die dieses Jahr einen nochmals größeren Stand auf der Buchmesse belegt haben als im Vorjahr. Zeichen eines Trends? Wir denken schon. Es hat ja was, das eigene Machwerk gedruckt oder als E-Book vor sich zu sehen. Allerdings: auf dann eigene Kosten und eher, um damit die eigene Eitelkeit zu befriedigen, als davon einen Beitrag zum Lebensunterhalt zu bestreiten.

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Eine weitere, spannendere Entwicklung finden wir in Halle 3.0 ein paar Meter weiter. Eine Idee, die sich bereits zur Internet-gestützten Vorabfinanzierung von IT-, Hightech- und auch Filmprojekten bewährt hat: Crowdfunding! Dass dies nun auch für das Verlegen von Büchern als Instrument entdeckt wird, war eigentlich naheliegend.

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Das Projekt „100 Fans“ der Münchner Verlagsgruppe versteht sich als Crowdfunding-Plattform ausschließlich für Bücher und läutet möglicherweise eine neu Ära des Publizierens ein. Das Prinzip ist ganz einfach: Autoren stellen ihre Buchprojekte und -ideen kostenlos auf der Plattform vor. Ohne thematische Beschränkungen. Die Leser entscheiden mit ihren eigenen Kommentaren darüber, ob das vorgestellte Projekt zu einem Buch werden soll. Sobald mindestens 100 Fans ein „Fanpaket“ ihres Favoriten bestellt und bezahlt haben, kommt der Stein ins Rollen und das Buch wird produziert. Wenn mindestens 1000 Fans zustimmen und zahlen, wird das Buch sogar ins gedruckte Verlagsprogramm und damit in die Vermarktungsmaschinerie der Verlagsgruppe aufgenommen. Anfang 2014 bereits sollen die ersten so finanzierten Bücher in den Markt gehen. Die Selfpublisher-Bibel hat ein ausführliches Interview mit den Initiatoren ins Netz gestellt.

60_NicolaRichter_Ebooks

An anderer Front macht sich Nicola Richter für die Demokratisierung des Publizierens stark. Als ausgewiesene Expertin für E-Books und die damit verbundenen Veränderungen in der Wertschöpfungskette von Verlagen und Buchhandel stellte sie auf der Buchmesse am Stand von Deutschlandradio klar, wohin der Zug ihrer Meinung nach rollt. Ihr im März gegründeter E-Book Verlag mikrotext ist selbst Bestandteil der zukünftigen Entwicklungen des Verlagsgeschäfts. Insofern lebt sie vor, was sie predigt. Weiter so, Frau Richter!

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Am Hotspot Kids & eReading wird uns dann spätestens klar, dass die digitale Contentproduktion im durch alle Vorder- und viele, viele Hintertüren angekommen ist in der Verlagswelt. An Publishing-Tools herrscht ebenso wenig Mangel wie an Apps, Apps, Apps. Und ausgerechnet der Kinderbuchbereich scheint einer der Vorreiter der plattformübergreifenden Publikation zu werden.

62_MangaKuscheltiere

Wie analog da doch so mancher Friedhof der Kuscheltiere wirkt, der sich hier und da und ganz besonders in Nachbarschaft der zahlreiche asiatischen Mangaproduzenten auf der Buchmesse niedergelassen hat.

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Apropos Kids. Die Kids Bubble auf dem Außengelände zwischen den Messehallen diente nicht etwa als Krabbelstube für die jüngsten Buchkonsumenten, sondern als Eventort für den Kinder- und Jugendbuchmarkt. Bis hin zum Licensing-Day mit Podiumsdiskussion, Suppen-Empfang und Messe-Rundgang zu ausgewiesenen Lizenzexperten. Fremde Welt.

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Für das geringfügig erwachsenere Publikum interessanter war da schon die großformatige Ankündigung des (endlich!) neuen Asterix bei den Pikten. Am 24. Oktober ist es offiziell soweit. Und erwartungsgemäß machte der Verlag ein ziemliches Geheimnis um die Details. Bis hin zu ausliegenden Voranmeldungslisten am Messestand für all jene, die sich die Chance auf einen signierten Band sichern wollten.

65_IvonIllmer

Während unsere Pressekollegen sich noch um die noch nicht existierenden Asterixexemplare rauften – und seien’s nur die Harre gewesen – entdecken wir in Halle 4.1 ganz hinten, nahe des Pressezentrums Bücher der ganz anderen Art: aus Holz! Und einfach nur schön! Die Buchskulpturen von Ivon Illmer haben etwas, keine Frage. Zwar kann man nicht in ihnen blättern, aber lesen kann man schon. Wenn man die Geschichten zu verstehen vermag, die im Holz stecken.

66_Buchholzkunst

Bei der Gelegenheit: Vielen Dank, lieber Herr Illmer, für das anregende Gespräch, das wir mit Ihnen führen durften.

67_Gutenberg

Gleich gegenüber demonstrierten Mitarbeiter des Gutenberg-Museums Mainz wie ihr Namensgeber dereinst die Lawine ins Rollen gebracht hat, an deren Ende die Frankfurter Buchmesse steht. Zwischen drei und fünf Stunden waren ehedam zu veranschlagen, um eine Buchseite zu setzen und zu drucken. Der Umfang einer Gutenberg-Bibel betrug knapp 1.200 Seiten. Womit sich uns die Frage stellt, wie Herr Gutenberg wohl auf die heutigen E-Books und deren Publizierungstechnik reagiert hätte?

68_IanMcEwan

Und damit nun wieder zurück zu dem eigentlichen Kern unserer Arbeit – das Entdecken von lesenswerten Büchern. Bei Diogenes (auch das einer unserer ausgewiesenen Lieblingsverlage) erschienen ist der neue Ian McEwan: „Honig“. Zeit der Handlung: Die siebziger Jahre in Großbritannien. McEwan wirft den Leser mitten hinein in die Welt des MI5. Was sich daraus und um die Protagonistin Serena Frome entspinnt, ist nicht nur ausgesprochen spannend – das ist bei McEwan ja schon Pflicht – es macht auch mit hintergründiger Psychologie klar, was in der heißen Phase des Kalten Krieges alles möglich war. Ein kleines Zitat aus dem Buch mag einen Hinweis geben: „Erstens, ich möchte einen Roman schreiben. Zweitens, ich bin pleite. Drittens, ich brauche einen Job. Viertens, der Job wird mir das Schreiben unmöglich machen. Ich sehe keinen Ausweg. Es gibt keinen. Und plötzlich klopft eine nette junge Frau an meine Tür und stellt mir einfach so ein dickes Stipendium in Aussicht, ohne Gegenleistung. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Ich bin misstrauisch.“ Mehr wollen wir an dieser Stelle nicht verraten. Außer natürlich: Das ist unser Lesetipp Nummer 16!

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Und wo wir schon mal bei Diogenes sind, müssen wir natürlich von einer diesmal echten Entdeckung berichten, eines Autors nämlich, der uns bisher gänzlich unbekannt war: Arnon Grünberg! Der Name deutet auf jüdische Wurzeln hin. Die Geschichte auch. Der junge Holländer, dem manche die Chuzpe haben, Antisemitismus vorzuwerfen, entwickelt nämlich in „Der jüdische Messias“ einen Plot, der in unseren Augen genauso genial, satirisch und schlussendlich erschreckend daher kommt wie letztes Jahr unsere von der Literaturkritik ein wenig herablassend behandelte Empfehlung „Er ist wieder da“. Ein junger Mann zieht aus, die Juden zu trösten, konvertiert selbst zum jüdischen Glauben und reißt fast die ganze Welt ins Verderben. Ein wunderbarer, ein formidabler Tabubruch, bei dem uns als geneigten Lesern das Lachen an genau den richtigen Stellen im Halse stecken bleibt. Deshalb besonders enthusiastisch – unser siebzehnter Lesetipp!

70_LarsSaabyeChristensen

Wer sich mit Tabubrüchen aus welchen Gründen auch immer nicht anfreunden mag, dem sei zum einen unser Mitleid gewiss, zum anderen Norwegens Top-Autor Lars Saabye Christensen ans Herz gelegt. Mit „Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte“ hat er eine überaus sensible und liebevolle Geschichte geschrieben, die im Kern ein Entwicklungsroman ist, aber einer, der auf leisen Sohlen daherkommt, hoch emotional ist, ohne je süßlich zu wirken. Wobei uns auffällt, dass erstaunlich viele Romane dieser Tage – auch dieser – als Protagonisten Schriftsteller verwenden. Hmmm, ob das nur Zufall ist oder etwas zu bedeuten hat? Egal. Das ist unser Lesetipp Nummer 18!

71_MohsinHamid

Mohsin Hamid hält es da anders. Der gebürtige Pakistani und Ex-Unternehmensberater ist ein geborener Erzähler. Sein bei Dumont verlegter Roman „So wirst du stinkreich im boomenden Asien“ beschreibt am handfesten Beispiel eine vom Tellerwäscher zum Millionär Geschichte, vordergründig. Tatsächlich aber ist dieser Bildungsroman zugleich auch eine berührende Liebesgeschichte und vor allem eine ätzende Satire auf die Heilsversprechen des kapitalistischen Systems. Indem er den Roman strukturiert mit den typischen profanen Ratschlägen eines Karriereratgebers vom „Zieh‘ in die Stadt“ bis zum „Konzentrier ‚dich aufs Wesentliche“, ergänzt um etliche ganz bewusste Realitätsbrüche (die wir hier nicht verraten), treibt er ohne Gnade die Absurdität voran. Creative Writing vom Feinsten. Wie es sich für unseren neunzehnten Lesetipp gehört!

72_YokoOgawa

Als emotionalen Ausgleich hierzu empfehlen wir fernöstliche Subtilität. Yōko Ogawa zählt nicht von ungefähr zur Crème der zeitgenössischen Schriftsteller Japans. Ihr bislang schon vielfältiges Werk krönt sie mit „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“. Ein sehr kompaktes Buch von geradezu verblüffender Leichtigkeit der Form, der bildhaften Sprache und der Idee. Sie erzählt leichtfüßig die Geschichte zweier Personen, eines Mathematikprofessors, dessen Gedächtnis zwar die Begebenheiten eines langen Lebens bewahrt, aber lediglich 80 Minuten seiner Gegenwart vorhält, um dann alles wieder zu vergessen und seiner Haushälterin, die damit klarkommen muss. Mit kleinen, raffinierten mathematischen Formelspielen steuert Ogawa die Geschichte. Denn Zahlen und Formeln sind es, die den Professor im Innersten berühren. Eine fabelhafte Lektüre für ein verregnetes Herbstwochenende und deshalb unser Lesetipp Nummer 20!

73_WillWiles

Ähnlich leichtfüßig kommt Will Wiles Erstlingswerk „Die nachhaltige Pflege von Holzböden“ daher. Und es ist urkomisch. Der Klappentext lässt uns ahnen, warum: „Aus den Englischen von Sanibe Lohmann. Oskar ist Komponist moderner Stücke, wie etwa seinen Variationen über Trambahnfahrpläne, und mit einer amerikanischen Kunsthändlerin verheiratet. Er lebt in einer osteuropäischen Hauptstadt mit seinen beiden Katzen, die er nach russischen Komponisten benannt hat. Aber eigentlich geht es in diesem Buch nicht um Oskar, denn der ist gerade in Kalifornien, um sich scheiden zu lassen. Deshalb beauftragt er einen alten Freund aus Studienzeiten, in seiner Abwesenheit auf die exquisit eingerichtete Wohnung aufzupassen, auf dass seine Katzen und besonders der kostbare Holzboden keinen Schaden nehmen.“ Dass diese Ausgangssituation nur in einer Katastrophe enden kann, liegt auf der Hand. Und muss deshalb in eine klare Empfehlung münden: unser 21. Lesetipp!

74_Abgang

Puh. 21 Lesetipps, viele schweißtreibende Messekilometer und drei harte Besuchstage. Ein bisserl ausgelaugt machen wir uns nun auf den Rückweg.

75_Hallenblick

Im Vorbeigehen ein letzter Blick auf die Messehallen…

76_HammeringMan

Und draußen ein ebensolcher Blick auf Jonathan Borofkys Hammering Man. Und das war’s. Dachten wir jedenfalls…

77_JoelDicker

Bis wir dann zuhause unsere kiloschweren gedruckten Mitbringsel sichteten. Darunter eine Broschüre des Piper Verlags, deren Inhalt uns animierte, zu recherchieren, wer Joël Dicker ist, was es mit ihm auf sich hat – und mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“. Verdammt! Da pilgert man tagelang kreuz und quer über die Frankfurter Buchmesse und lässt sich dieses Buch durch die Lappen gehen? Peinlich, das. Ein raffinierter Plot, ein Jahre zurückliegender Kriminalfall, ein präzises Sittengemälde der Gesellschaft der US-Ostküste, als Protagonisten ein gereifter Schriftsteller und sein literarischer Ziehsohn (schon wieder! hatten wir nicht bereits beobachtet, dass zahlreiche Top-Romane quasi selbstreferenzierende Figuren verwenden?) – daraus entwickelt sich auf immerhin 700 Seiten eine Geschichte von äußerster Schlüssigkeit, niemals und an keiner Stelle langweilig, hineinziehend und fesselnd, eben großes Kino! Und das ausgerechnet von einem Schweizer Autor? Unglaublich, aber aller Voraussicht nach eines der drei bemerkenswertesten Werke des Jahres und auf unseren schlichten Verdacht hin der abschließende Lesetipp Nummer 22!

78_Finnland

Bleibt nur noch nachzutragen, dass im kommenden Jahr Finnland Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein wird. Pressemappen lagen schon aus in Frankfurt. Natürlich werden wir auch dann wieder vor Ort sein und aus den oft mehr eiligen als heiligen Hallen berichten. Hoffentlich zur Zufriedenheit unserer Leserinnen und Leser. Für das Interesse bis hierher dankt Euch das kleine, aber rege Redaktionsteam von Café Digital. CU!

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