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Neulich in der Paulskirche

Veröffentlicht in Gesellschaft, Politik | 12. November 2013 | 16:57:16 | Roland Müller

Reemtsma_Paulskirche

Wieder einmal musste sich jener Tag, der an die Synagogenzerstörungen 1938 in Deutschland erinnert, auf den historisch unkorrekten 10. November verschieben lassen. Nachdem der angestammte Platz im Kalender ja bereits von der deutschen Wiedervereinigung „belegt“ ist. Wie auch immer, am Tag nach dem multiplen deutschen Schicksalstag 9. November jedenfalls fanden wir Gelegenheit, ab 17 Uhr in der Paulskirche zugegen zu sein. Drei Ansprachen erwarteten uns. Zwei davon wie erwartet, die dritte brilliant und insofern auch erwartet…

Ärgerlich die ganze Veranstaltung hinweg war die Tatsache, dass die Beschallungsanlage dermaßen niedrig eingepegelt war, dass eine große Mehrheit der Besucherinnen und Besucher nur jedes dritte Wort akustisch wahrnehmen konnten, manche, insbesondere die Älteren, nicht einmal das. Schlamperei am Mischpult, leider. Von den drei Vortragenden erhob lediglich Jan Philipp Reemtsma ausreichend die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. Seine beiden Vorredner, der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann – dem wir leider den Tipp geben müssen, ein klein wenig mehr an seiner Vortragstechnik zu feilen, was Dramaturgie, Gestik und halbwegs freie Rede angeht. Sowie im Anschluss Harry Schnabel, Mitglied des Vorstands der gottlob wieder sehr lebendigen Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Zu den beiden Vorreden gibt es vergleichsweise wenig anzumerken außer der Tatsache, dass sie die üblichen wohlabgewogenen (wer schreibt eigentlich Ihre Reden, Herr Feldmann?) Worte und Zeitbeispiele enthielten. Im Falle Harry Schnabels mit dem fast schon traditionellen dialektisch kaum verbrämten Versuch, jegliche Kritik am aktuellen politischen Verhalten des Staates Israel in die Verdachtsnähe zum Antisemitismus zu rücken. Aber gut, das kennt man schon und vermag es auch irgendwo zu verstehen, wenn auch nicht zu akzeptieren. Auch wenn zugegebenermaßen die Linie zwischen berechtigter Kritik und antisemitischer Dialektik eine sehr feine ist. Spannend wurde dann die Rede von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Philipp Reemtsma. Als Vorsitzender des Vorstands des Hamburger Instituts für Sozialforschung titelte er seinen Vortrag mit „Ehrenvoller Auftrag! Ehrenvoller Auftrag!“. Was es damit konkret auf sich hatte, erschloss sich schnell im weiteren Verlauf seiner Ausführungen. Die damit begannen, dass er klarstellte, was Antisemitismus nicht ist – ein ungewöhnlicher Versuch, einen Begriff deduktiv zu definieren. Und genau deshalb besonders eindringlich: Antisemitismus ist nicht eine Ideologie, eine Weltanschauung, eine Ansicht oder ein Vorurteil. Wäre es dies, müsste man sich damit argumentativ auseinandersetzen. Reflektiert man das, was an in jenen Novembertagen des Jahres 1938 geschah und seit 1933 kulminierte, um dann schon kurz darauf in der industriellen, bürokratisch durchorganisierten Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung Deutschlands zu gipfeln, dann brennt sich ein Satz Jan Philipp Reemtsmas in die Großhirnrinde ein, der philosophisch klingen mag, aber genau auf den Punkt bringt, was da passiert ist und wie es passieren konnte: „Die Tat erfährt ihre Legitimation durch das Tun.“ Wer den Satz liest, dem muss es grauen. Und die Frage, die wir immer wieder hören oder uns selber stellen, wie dies in einem kultivierten Land passieren konnte, findet darin fast zwangsläufig ihre Antwort: Es war kein kultiviertes Land, dieses Deutschland des Jahres 1938. Reemtsma wusste dies eindrucksvoll zu belegen mit Originalzitaten aus Josef Göbbels‘ Tagebüchern, die vor fast kindlicher Freude über das angerichtete Unheil und lustvoller Vorfreude auf das dem Folgende nur so triefen. Ja, die Tat erfährt ihre Legitimation durch das Tun. So einfach, so grausam profan ist das. Wenn die SA-Schläger in jüdische Wohnungen eindrangen, Möbel und Menschen zerschlugen, dann demonstrierte dies ganz unverblümt ein „Wir können das ungestraft tun“ und im gleichen Atemzug ein „So muss man das machen“. Die Tat erfährt ihre Legitimation durch das Tun. Dieser blutrote Faden zieht sich durch die gesamte Kurzgeschichte des tausendjährigen Reiches. Und, wenn man genau hinschaut, auch durch manch andere Geschichte. Uns allen dies klarzumachen, das ist Jan Philipp Reemtsma in beeindruckender Weise gelungen. Dafür gebührt im Dank. Und um auch das noch nachzutragen: Der Titel von Reemtsmas Vortrag „Ehrenvoller Auftrag! Ehrenvoller Auftrag!“ zitiert die Antwort eines Göbbels Er- und Untergebenen, als er freie Hand bekam, seine Schläger loszuschicken…

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