


Messe-Samstag. Bei strahlend blauem Himmel und perfektem Herbstwqetter geht’s hoch hinaus. Die Außen-Rolltreppe zwischen Agora und Halle 3.1 ächzt unter der Last der Menschen. Ein Security-Mensch achtet darauf, dass die Besucherinnen und Besucher nur schubweise auf die Stufen steigen. Er wird wissen, warum.

Während wir anstehen und auf die nächste Ladung warten, schauen wir uns um und entdecken unerwarteterweise einen nicht ganz Unbekannten, der fröhlich und in seiner unnachahmlichen Weise in die Runde grinst. Auch wenn Oliver Kalkofe sonst eher übers TV lästert, scheint er nun auch gefallen gefunden zu haben an der Bücherwelt. Vielleicht hat er aber auch nur ein Date mit einem Verlag?

Endlich in der Halle angekommen, steuern wir als erstes den bisher bei unserer Messe-Berichterstattung von uns vernachlässigten Verelag Wagenbach an. Was natürlich nicht ohne profunde Lesetipps abhene kann. „Cara Elsa – Briefe von und an Elsa Morante“, herausgegeben von Cornelia Wild und übersetzt von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski mag eher als Insidertipp wahrgenommen werden, ist aber von der ersten bis zur letzten Seite lesenswert. Denn die Briefe zwischen Elsa Morante (einer der berühmtesten Schriftstsellerinnen Italiens) und ihren engsten Schriftsteller- und Künstler-Weggefährten wie Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, Italo Calvino, Alberto Moravia, Pier Paolo Pasolini, Luchino Visconti decken auf, was sie im Innersten bewegte. Sie künden von Erfüllung und Einsamkeit, Euphorie und Selbstzweifel, Erfolg und Scheitern einer Schreibenden. Faszinierende Lektüre und deshalb unser 5. Lesetipp!

Spannend und ebenfalls bei Wagenbach erschienen sind „Die Kollaborateure“ von Katrina Tuvera. Aus dem Philippinischen übersetzt von Jan Karsten. Tuvera berichtet in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch von existenziellen Konflikten ausgangs des 20 Jahrhunderts, dem Aufstieg von Marcos‘ Clique, der Militärdiktatur und den Seilschaften der Profiteure und Kollaborateure. Und ganz nebenbei von der Geschichte eines uns immer noch weitgehend unbekannten Landes. Das Spannende: Die Autorin schreibt aus der Sicht eines Mitläufers des Regimes!

Ein Buch, das Wagenbach sei Dank auch für unsere aktuelle Situation inmitten eines aufkeimenden rechten Populismus interessante Erkenntnisse vermittelt über ganz grundsätzliche Strukturen, die in autoritären Regimen bestens gedeihen. Ergo: unser 6. Lesetipp!

Krasser Themenwechsel und ebenfalls bei Wagenbach erschienen: Mit „Die Feuerschrift“ macht Autor Lothar Müller ein Fass auf. Denn in diesem spannend zu lesenden Sachbuch präsentiert er uns ein völlig neues Bild des klischeebehafteten Giacomo Casanova, der viel zu vorschnell als bloßer Frauenbetörer gehandelt wird. Weit gefehlt! Denn Wahrheit war Casanova ein exzellent vernetzter Abenteurer, Projekteschmied und politischer Kommentator des Zeitgeschehens. Ein hoch gebildeter Intellektueller, der alle Informationsquellen seiner Zeit zu nutzen wusste. Deshalb beinhaltet Müllers Buch auch einen Auszug aus Casanovas bisher unübersetzter „Geschichte der politischen Wirren“.

Wer dieses Buch gelesen hat, wird alles, was er bisher über Casanova zu wissen glaubte, hinter sich lassen. Allein dafür gebührt dem Autor größtes Lob. Dass er dazu einen sehr lesbaren und unterhaltsamen Erzählton beherrscht, macht dieses Buch erst recht zu unserem 7. Lesetipp!

Irgendwie fält es uns schwer, uns vom Wagenbach Verlag wieder zu verabschieden. Das ist nicht zuletzt auch Verdienst eines weiteren Buches, das wir aus den Regalen fischen: „Der Hase im Mond“ von Milena Michiko Flašar. Wir hatten ja vor einer Weile bereits ihr „Herr Kato spielt Familie“ gelobt und empfohlen. Mit ihrem neuen Werk liefert sie keinen stillen und tiefen Roman, sondern eine Sammlung von Erzählungen und Kurzgeschichten, die allerdings die gleiche Poesie atmen wie ihr Romanwerk.

Ohne zu spoilern muss man sagen, dass diese Geschichtensammlung überaus kreativ, wie gesagt sehr poetisch und oft genug surreal und fantastisch daherkommt. Ein Lesevergnügen von ganz eigenem Sprachrythmus und auch deshalb unser 8. Lesetipp!

Nun aber los zu neuen Ufern! Wir schlendern über den großen Stand der Aufbau Verlage, deren Programm gerade im Jahr des 80-jährigen Jubiläums durch außergewöhnliche Vielfalt glänzt …

… und landen gleich nebenan bei Diogenes. Zwei literarisch hochrangige unabhängige Verlage Tür an Tür, wie schön. Wir finden Bestsellerautor Takis Würger im Kreis seiner Jüngerinnen. Nein, Quatsch, junger Fans, die an seinen Lippen hängen. Wir versuchen, die Runde nicht zu stören und stöbern durch die Regale.

„Down Cemetery Road“ von Mick Herron fällt uns sofort auf. Kein Wunder, sind wir doch große Fans seiner Slow Horses Reihe. Mit diesem neuen Kriminalroman bringt Herron erstmals eine Ermittlerin ins Spiel. Kann sie die überaus kauzigen Charaktere der Slow Horses toppen oder zumindest das Level halten? Nun, nach kurzem Anlesen sind wir jedenfalls sehr angetan.

Und das hat nichts damit zu tun, dass auf dem Rücktitel Herrons berühmte Kollegin Val McDermid zitiert wird, „isch schwöre!“

Dass allerdings ausgerechnet die großartige Emma Thompson sich im von ihr geschriebenen Vorwort als Mick Herron Fan outet, das hat schon was. Aber auch ohne Emma unser 9. Lesetipp!

Auch unser nächster Lesetipp hat eine Vorgeschichte. Denn in unserem Regal steht „Rendezvous mit einem Oktopus“, ein bereits etwas älteres Buch von Sy Montgomery, in dem sie in einer unvergleichlichen Ton ihre Erfahrungen mit Oktopoden schildert. Nature Writing at its best. Und zugleich der Grund dafür, dass bei uns seitdem keine Kalmare mehr in der Küche landen. Nun lässt sich die Naturforscherin und Drehbuchautorin auf eine ähnlich alte Spezies ein: Schildkröten.

Ausgangspunkt dieses erzählenden Sachbuchs sind ihre ganz persönlichehn Erfahrungen in einer Schildkröten-Auffangstation in Massachusetts, in der sie ein Freiwilligenjahr verbracht hat. Was sie daraus gemacht hat und mit diesem Buch vorlegt, ist die perfekte Entschleunigungslektüre. Und zugleich eine Liebeserklärung an eine der ältesten lebenden Spezies des Planeten mit dem Potenzial, unsere Sicht auf die Welt und die Natur zu verändern. Unbedingter 10. Lesetipp!

Bleibt noch auf Stefan Hertmans „Dius“ hinzuweisen. Eine eigentümliche Männerfreundschaft abseits der Lebensräume der beiden Protagonisten, einem hochbegabten, aber recht ambivalenten, gleichwohl charmanten Kunststudenten und seinem deutlich älteren Dozenten. Eine jahrelange Freundschaft, die an einer Lüge zerbricht und Jahre später auf eine Neuauflage hofft. Unter wesentlich komplizierteren Bedingungen und mit einem überraschenden Ausgang.

Ein Roman, der ganz grundsätzliche Fragen aufwirft über Leben und Freundschaft, Erwartungen und Enttäuschungen und nicht zuletzt Sinn, Notwendigkeit und Zweck der Kunst. Anrührend zu lesen wie fast jeder Roman aus der Feder des im Original Niederländisch schreibenden Belgiers Hertmans und Nachdenken hinterlassend. Unser 11. Lesetipp!

Muss ich noch verraten, dass wir nach so vielen Lesetipps mit kurrenden Mägen kurz die Buchmesse verlassen und wohin gehen? Okay, Ihr ahnt es schon, dann muss ich es nicht wiederholen.

Nach kurzer Verdauungspause schauen wir beim Stand des Verlags Hermann Schmidt vorbei, einem von Gilas (meiner Gattin) Lieblingsverlagen. Denn nur hier findet sich das gebündelte Know-how von Typografie, Design und professioneller Grafik zwischen Buchdeckeln versammelt. Schönes Neues. Schönheit, wie das bereits in der Headline zu diesem Messebericht angeklungen war. Ja, genau darum geht es! Und die wird offenbar auch von Karin Schmidt-Friderichs geteilt, Ex-Vorstand des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, die dieses Amt zu Beginn dieser Messe turnusgemäß an einen Nachfolger weitergereicht hat. Endlich Zeit für Schönheit, liebe Karin? Genießen Sie es!

Und dann kommen wir zum finalen Termin dieses Messe-Samstags. Wir sind verabredet mit einem lieben Kollegen und ebenfalls Mitglied im Montségur Autoren-Forum, der heute in Halle 3.0 auf der Bühne der „30-Minuten-WG“ präsentiert wird, einer Kooperation der Stern-Redaktion und der Verlagsgruppe Penguin Randomhouse. Wir sind rechtseitig vor Ort und ergattern sogar nach einigem Gerangel zwei Stühle.

Titus Müller, Namensvetter und erfahrener Autor historischer Stoffe (Kunststück, er ist studierter Historiker) präsentiert im Interview mit der Stern-Redakteurin gewohnt eloquent und witzig „Die Dolmetscherin“, sein neuester Roman. Nicht zu verwechseln mit dem Kinofilm gleichen Titels von Sidney Pollack. Basierend auf intensiven Recherchen (seine Begeisterung dafür teilen wir!) in den Gesprächsprotokollen der Nürnberger Prozesse entblättert Titus Müller die faszinierende Geschichte einer der ersten Simultan-Dolmetscherinnen überhaupt, die auf ihre eigene Art ihren Beitrag zur Wahheitsfindung bei der Aufklärung des größten Menschheitsverbrechens der Geschichte geleistet hat. Kein leichter Stoff. Aber brilliant recherchiert und sehr, sehr lesenswert. Allein schon aufgrund der ungewohnten Perspektive der Protagonistin. Es kann also nur unser 12. Lesetipp dabei herauskommen!

Anschließend haben wir uns zu dritt nach draußen verzogen, an die frische Luft eines immer noch sonnigen Herbsttages, getrunken, geredet und unseren Spaß gehabt beim Austausch unserer Erfahrungen als Autoren mit Verlagen, Agenten und den Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes. Nochmal herzlichen Dank an dieser Stelle, lieber Titus, für diesen würdigen Ausklang unserer Berichterstattung über den Samstag in den heiligen Buchmessehallen der Stadt Frankfurt!
Morgen, liebe Leserinnen und Leser, werden wir die diesjährige Berichterstattung von der größten Buchmesse der Welt mit einem finalen Beitrag beenden. Viele Fotos, der eine oder andere Lesetipp und Skurrilitäten links und rechts der Hallen erwarten Euch. Bis dahin: lest ein gutes Buch (zum Beispiel das von Titus)!
Tags: Die 30-Minuten-WG, Die Dolmetscherin, Diogenes Verlag, FBM 2025, Frankfurter Buchmesse 2025, Lesetipps, Titus Müller, Verlag Hermann Schmidt, Wagenbach Verlag
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