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Schokolade

Frankfurter Buchmesse 2009 (2)

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Literatur, Politik | 15. Oktober 2009 | 20:14:39 | Roland Müller

BM09_ChinaForum-Eingang

China! 1,3 Milliarden Menschen. Und ein Verlagswesen, das dem unseren zumindest eines voraus hat: Rund ein Fünftel aller chinesischen Bestseller ist im Internet publiziert worden, bevor eine gedruckte Version erschien. Was, wie man sich denken kann, eine Menge Folgen für die chinesische Buchbranche hatte. Laut Dr. Jing Bartz, der Leiterin des Buchinformationszentrums (BIZ) in Peking bedeutet dies: „Private Verlage gewinnen an Einfluss, bis dato unentdeckte Autorentalente und neue Themen erobern aus dem Internet heraus die Bestsellerlisten.“ China ist als Gastland der Buchmesse also aus vielen Gründen so spannend wie ambivalent…

BM09_China_Counter

Wir schlagen uns also durch zum Counter der China-Sonderausstellung im Forum 1 der Messehallen. Wir sind gespannt, was uns dort erwarten mag. Wie wird China sich präsentieren?

BM09_ChinaZuschauer

Nun, wie platzen mitten hinein in eine laufende Präsentation und ein gut gefülltes Auditorium. Alles in strengem Weiß und Blau dekoriert. Auf der Bühne doziert ein…

BM09_ChinaVerleger

…hochrangiger chinesischer Verleger in leicht verständlichem Mandarin über die Zukunft des Reichs der Mitte. Weniger die literarische allerdings. Was möglicherweise mit dem Thema der Präsentation zu tun hat. Bei der stellt nämlich der prominenteste und einflussreichste Trendforscher unseres blauen Planeten (deshalb dieses blaustichige Licht herinnen?) seinen neuen B

estseller vor. Und der ist ganz China gewidmet…

BM09_ChinaMegatrends

„Chinas Megatrends“ von John und Doris Naisbitt. Hierzulande erschienen bei Hanser. Bei Deutschlandradio Kultur findet sich eine erste Rezension, der wir uns nach kurzem Blättern anschließen. Ein weiterer Lesetipp zum Thema China also!

BM09_China_Naisbitt

Wir haben Glück. Denn Autor nebst Gattin sind persönlich anwesend und geben sich zudem alle Mühe, dem Publikum die Feinheiten ihres 8-Säulen-Modells der neuen chinesischen Gesellschaft zu erläutern. Trotzdem können wir uns ein klein wenig des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Sicht der VR China zwar visionär ist, aber möglicherweise bewusst einige weniger rühmliche Aspekte chinesischer Alltagspolitik ausklammert. Sei’s drum. Jedes Buch, das sich bemüht, zu ergründen, wie China „tickt“, ist ein Gewinn für uns. Nachdenklich machen wir die Runde durch die Selbstdarstellungsorgie der VR China…

BM09_ChinaEBooks

Wir staunen. Direkt hinterm Eingang finden wir einen langen Stand voller chinesischer eBooks vor. Nein, man schläft nicht im Reich des Drachen, wirklich nicht. Insofern ist der Kontrast zum Rest der Ausstellung um so größer. Denn allerbreitesten Raum nimmt nicht chinesische Literatur ein, sondern chinesische Kultur.

BM09_ChinaTypo-klein

Ein Meer von Schriftzeichen ist drapiert wie eine Rauminstallation auf der Dokumente. Und durchaus anschauenswert, erst recht im Großformat. Und so langsam beschleicht uns eine Ahnung, dass hier wir Langnasen mit der vollen Wucht einer 5000jährigen Geschichte erschlagen werden sollen. Die weiteren Ausstellungsartefakte bestätigen dies.

BM09_ChinaKonfuzius

Unter den höchst systemkonformen Augen von Konfuzius breitet sich vor uns die Entwicklungsgeschichte der chinesischen Schreib- und Druckkunst aus. Lückenlos dokumentiert von ihren ersten Anfängen…

BM09_ChinaKalligraphie

…über frühe Kalligraphie-Utensilien bis zu von den Chinesen („Wer hat’s erfunden?“) erfundenen Buchdruck mit beweglichen Lettern, deren Idee schließlich den Weg bis nach Mainz fand…

BM09_ChinaBuchdruck2

Zugegeben, wir sind beeindruckt. Trotzdem fragen wir uns: Wo sind die Autoren, die Literaten, die ehedem viel geschmähten Intellektuellen? Am anderen Ende der Halle entdecken wir schließlich eine Leseecke mit deutschsprachiger Literatur über China. Wohlbemerkt, „über“ China.

BM09_BooksOnChina

Und das ist dann schon weitaus weniger beeindruckend. Zumal das Interesse an China in den vergangenen Jahren doch gewaltig gewachsen ist. Ach ja, und ganz am Ende der Halle dann, hinter der Bühne entdecken wir sie dann, die China für würdig hält, das Land, seine Gesellschaft und seine Vision der Zukunft hier auf der Buchmesse zu vertreten. Zum besseren Erkennen hier nochmal in Groß.

BM09_65Chinesen-klein

Tja, was soll man da noch sagen. Irgendwie erscheint uns das doch ein wenig dürftig für ein Land mit 64 Literatur-Internetportalen, 70 Millionen Blogs und fast 50 Millionen aktiver Blogger, in dem täglich 400 Originalmanuskripte online gestellt werden und 570 offizielle Verlage ihre Publikationen erstellen. Kannn es sein, dass die spannendste chinesische Literatur tatsächlich jene der Exilchinesen ist, die im Westen leben und arbeiten? Wir sind ein wenig ratlos, hatten wir doch vorgehabt, einige hierzulande weniger bekannte chinesische Autoren zu entdecken und vorzustellen. Schade. Im Rausch der eigenen historischen Größe und unter dem Zwang einer starren Kulturbürokratie hat der rote Drache eine große Chance verpasst, die ganze Breite seiner Literatur zu präsentieren. Mit all ihren Widersprüchen, Wechselwirkungen und Ambivalenzen.

BM09_ChinaMuell

Und erhalten ganz unbeabsichtigte Wegweiser-Platzierungen beim Bummel zurück in die Messehallen ein merkwürdiges Assoziationspotenzial. Und ganz gewiss keines, von dem die in vielfacher Zahl ihrer Autoren angereisten chinesischen Kulturfunktionäre geträumt haben mochten.

BM09_ChinPavillon

Bot die China-Darstellung im Forum einen Blick auf die Kulturgroßmacht China, feiert man im Pavillon – platziert draußen auf dem Zentralplatz zwischen den Messehallen – die chinesische Volkskunst. Setzt also das Begonnene im Kleinen fort. Was allerdings auch seine Widersprüche birgt. Denn neben allerlei chinesischer Druck-, Mal- und Textilkunst wird hier auch Tibetanisches geboten. Ein subtiler Dreh, um die Zugehörigkeit Tibets zur VR China zu dokumentieren.

BM09_ChinTeezeremonie

Wir werfen einen Blick auf eine original chinesische Teezeremonie, unwiderstehlich freundlich präsentiert und gehen dann wieder hinaus auf den und die sich an den Pavillon anschließende Freilichtbühne.

BM09_ChinPekingoper

Dort treffen wir das an, was zur Abrundung des klischeehaft bunten China-Bilderbogens noch gefehlt hatte: Theater. Allerdings nicht die befürchtete Peking-Oper, sondern – sieh an! – klassische chinesische Theaterkunst. So weit, so gut. Was bleibt, ist der sich verstärkende Eindruck, dass Kultur alles ist und Literatur entschieden zu kurz kommt in der Selbstdarstellung des Ehrengasts. Wir müssen uns wohl woanders umschauen.

BM09_ChinWritersPoint

Zum Beispiel beim Chinese Writers‘ Point, wo chinesische Intellektuelle und unabhängige Autoren von ihren oft trüben Erfahrungen als Exilanten berichten. Aber auch von trick- und erfolgreichen Versuchen, ihre Geschichten durch die engen Maschen der Zensur zu schleusen. Die chinesische Epoch Times 大纪元时报 als reichweitenstärkstes unabhängiges Presseorgan weiß hierzu mehr zu berichten.

BM09_DasblaueSofa

Wie der Zufall so spielt – wir wollen uns gerade wieder auf den Weg zurück in die Redaktion machen – treffen wir auf dem Weg zur Halle 4 auf Das Blaue Sofa, auf dem traditionell die Süddeutsche Zeiten auf den Buchmessen Autoren Platz zu nehmen bittet, die etwas zu sagen haben. Perfektes Timing! Denn als wir auftauchen und fast in der Zuschauermenge unterzugehen drohen, interviewt die SZ-Moderatorin soeben Ma Jian, dessen Romane „Red Dust“ und „Peking Koma“ in der VR China verboten sind. Beides schwere, aber wichtige Kost, um das heutige China zu verstehen, das sich nicht an die Auswüchse der Kulturrevolution erinnern mag, so wenig wie an das, was auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah…

BM09_TwoChineseGirls

Wir amüsieren uns noch ein wenig über zwei gut aufgelegte und ständig mit dem Handy telefonierende Chinesinnen und machen uns für heute auf den Nachhauseweg.

Fazit des zweiten Messetages also: Da gibt es das hochoffizielle China auf der Buchmesse. Und es sieht sich konfrontiert mit dem inoffiziellen Exilchina als Spiegel seiner politischen, kulturellen und sozialen Realität. Gerade das, so meinen wir, macht den eigentlichen Reiz dieser 61. Frankfurter Buchmesse aus. Morgen werden wir auf einem abschließen Rundgang schauen, ob und was sich bei Hörbüchern und eBooks tut, einen Blick auf kleinere Verlage werfen und Skurrilitäten dieser Messe aufsammeln. Deshalb erneut: stay tuned!

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3 Antworten zu “Frankfurter Buchmesse 2009 (2)”

  1. 16. Oktober 2009 um 20:56:10 | Dirk Kirchberg sagt:

    Wieder ein großartiger Rundgang! Danke, so komme ich auch auf die Buchmesse. 🙂

  2. 17. Oktober 2009 um 10:12:53 | Roland sagt:

    Hi Dirk,

    Du kannst Dich weiter von der offenbar langen und lustigen Trauungsfeier erholen 😉 Heute folgt der dritte Messebericht und morgen der abschließende vierte…

  3. 18. Oktober 2009 um 00:22:40 | Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2009 « schneeschmelze | texte sagt:

    […] Die chinesische Märchenstunde überließ ich anderen. […]