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Beobachtungen am und zum 9. November

Veröffentlicht in Gesellschaft, Politik | 10. November 2018 | 16:52:40 | Roland Müller

9. November 2018. 80 Jahre nach der Pogromnacht von 1938. Jener Nacht, in der in Deutschland mehr als 1400 Synagogen, Gebetsräume und sonstige jüdische Versammlungsstätten in Brand gesetzt wurden. Nicht spontan, sondern von langer Hand vorbereitet, unter dem Gejohle beutegieriger Anwohner, unter dem Wegschauen einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Zerstörte Geschäfte, geplünderte Wohnungen und geschändete jüdische Friedhöfe. 80 Jahre ist das nun her und durchaus in der Gefahr, unter den positiveren Aspekten anderer geschichtsträchtiger 9. November-Ereignisse verdeckt zu werden. Sei es Scheidemanns Ausrufung der Deutschen Republik unmittelbar nach der Novemberrevolution oder die Öffnung der Berliner Mauer 1989. Gleichwohl bietet die Gegenwart mehr denn je Anlass, an jenen 9. November 1938 zu erinnern, das was ihm folgte und das, was ihm vorausging…

Die alljährlich in der geschichtsträchtigen Frankfurter Paulskirche stattfindende Gedenkstunde zur Erinnerung an die Ereignisse der Pogromnacht von 1938 war in diesem Jahr 2018 von einer bedrückenden Aktualität. Heißt es nicht „Im Anfang war das Wort?“. Wie wahr. Vor der Tat ist die Sprache. Vergleicht man die nationalsozialistisch geprägte Sprache und das politische Vokabular der Jahre von 1933 bis 1945 mit jener, die seit kurzem hierzulande aus Teilen der AfD und aus den Kreisen der Pegida-Demonstrierer zu hören ist, dann bietet dies jeden Anlass, hellwach und wachsamer denn je zu sein. Wer weiß, wie klein der Schritt von einem Gauland zu einem Gauleiter unter gewissen Umständen sein mag? Auch Oberbürgermeister Peter Feldmann, nicht gerade der wortgewaltigste Redner dieses Tages, lenkte die Aufmerksamkeit der in der Paulskirche Anwesenden auf die sprachlichen Entgleisungen des Jahres 2018 und deren unmittelbare Verwandtschaft mit dem Nazisprech der 30iger Jahre. Eine Sprache, die sich längst auch in die Klassen und Schulhöfe geschlichen hat…

Der zweite Redner der Gedenkstunde, Harry Schnabel, Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, nahm ebenfalls kein Blatt vor den Mund. Präzise und überzeugend arbeitete er beispielsweise heraus, dass auch ein medial längst weit verbreiteter Begriff wie „Israelkritik“, der übrigens ausschließlich hierzulande benutzt wird und keinerlei Entsprechung in anderen Verkehrssprachen findet, nichts anderes darstellt als geschickt verbrämten Antisemitismus. Israelische Regierungspolitik mag man kritisieren, dazu gibt es durchaus Anlass, keine Frage. Aber in dem Moment, wo man dies als „Israelkritik“ substantiviert, etabliert man einen Pauschalismus, der unter einem politischen Deckmäntelchen antisemitische Gesinnung ausdrückt. Vor der Tat ist die Sprache, auch da…

Die womöglich spannendste und zumindest für uns beeindruckendste Rede war jene des dritten Vortragenden. Dr. Felix Klein, erst kürzlich ernannter Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, spannte vom Gedenktag und seinen kaum übersehbaren aktuellen Bezügen den großen Bogen zur grundsätzlichen Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Er betonte, dass in vielerlei Beziehung die Weimarer Republik nicht vergleichbar sei mit der Bundesrepublik des Jahres 2018. Indem er auf das Beispiel eines Wilhelm Krützfeld abhob, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Berlin mit seiner kleinen Polizeitruppe eine jüdische Synagoge vor SA-Truppen schützte, mit Worten und Waffen, forderte er für unsere heutige Zivilgesellschaft mehr Zivilcourage ein. Und auch die beginnt mitten in unser aller Alltag, durch Dazwischengehen, wenn die wohlbekannten sprachlichen Entgleisungen stattfinden, im Büro, an den Stammtischen und wo auch immer. Denn vor der Tat ist die Sprache. Und dies mitunter sogar an Orten, wo man es am wenigsten erwarten mag. Wie das folgende Beispiel dokumentiert…

Am 24. Oktober hatte der renommierte Wirtschaftsclub Rhein-Main e.V. zu einer eigentlich sehr spannenden Veranstaltung geladen: Die beiden Autoren und Wirtschaftswissenschaftler Marc Friedrich und Matthias Weik sollten zu einem brisanten Thema referieren: „Sonst knallt´s – Warum wir Politik und Wirtschaft radikal neu denken müssen“. Anwesend sein sollte als Diskussionspartner auch der visionäre Gründer der dm-Märkte, Götz Werner. Eine Krankheit verhinderte aber dessen Anreise. Gleichwohl waren alle Gäste gespannt auf die Erkenntnisse der beiden Referenten.

Während diese sehr überzeugend und mit faktenreichen Charts ihre Prognose untermauerten, wonach die seit einer Weile zu beobachtende Geldblase an den Märkten kurz, sehr kurz vor dem Platzen steht, hörten wir mit einem Ohr einem ganz anderen „Referat“ zu. Dieses fand an dem Tisch statt, an dem wir im großen Rund mit sechs anderen Gästen Platz gefunden hatten…

Ein junger Mann, geschätzt etwa in den Enddreißigern, Anzug, Krawatte, seriös-konservatives Outfit, stellte sich in der Runde artig als Literaturwissenschaftler vor. Was ein wenig verwunderlich schien in Anbetracht des Themas an diesem Abend. Diese unsere Verwunderung wuchs um so mehr, als der adrette Herr begann, in einem nicht enden wollenden Monolog sein Geheimwissen preiszugeben, das er zum Zustand Deutschlands zum Besten geben wollte. Schon die ersten Stichworte wie „Geschichtsrevision“ und „Die Sieger schreiben die Geschichte“, die Aussage, gut bekannt zu sein mit Alice Weidel sowie allerlei abstruse und im weitesten Sinne „völkische“ Hinweise machten klar, um wes‘ Geistes Kind es sich da handelte. Unsere Vermutung: Ein AfD-Jünger, der sich ganz gezielt in den durchaus elitären Zirkel des Wirtschaftsclubs eingeschleust hatte, um hier seine schlammigen Verschwörungstheorien zu verbreiten? Vor der Tat ist die Sprache, sogar hier, an einem Ort und auf einer Veranstaltung, wo man es am wenigsten erwarten sollte. Aus der Rück-Sicht des 9. November 2018 ergibt so das eher wirtschaftspolitisch gemeinte Schluss-Chart der beiden Referenten Marc Friedrich und Matthias Weik einen ganz besonderen gesellschaftspolitischen Sinn – übrigens genau jenen, den der durchaus ambivalente Erich Kästner vermutlich im Sinn gehabt hatte:

Wir jedenfalls werden nach dieser Melange von Erfahrungen noch ein wenig wacher auf das Alltagsgeschehen rundum schauen, um nicht irgendwann sagen zu müssen: Wir haben von nichts gewusst.

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