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Frankfurter Buchmesse 2017 (2): Hoffnungen und Highlights

Veröffentlicht in Gesellschaft, Internet, Kultur, Kunst, Literatur | 11. Oktober 2017 | 21:34:44 | Roland Müller

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Das Wetter ist leidlich gut, unsere Stimmung besser, kurzum: Es kann losgehen! Heute drehen wir unsere erste Runde über die Frankfurter Buchmesse 2017. Die 69. Frankfurter Buchmesse seit Gründung und zugleich unsere 9. Reportage von dieser Literatur-Olympiade seit 2009. Wie die Zeit vergeht. Politischer ist sie geworden, über die vergangenen Jahre. Aber auch provokanter und diskussionsfreudiger. Was sich hingegen nicht geändert hat ist das Schaulaufen prominenter und weniger prominenter AutorInnen, das Aushandeln von Lizenzen und Verträgen hinter den Kulissen und das Buhlen um die Aufmerksamkeit des Fachpublikums. Wir lassen uns davon nicht beeindrucken und werden wie immer versuchen, die raren Perlen unter den Publikationen dieser Buchmesse herauszufischen aus dem Meer der Belanglosigkeiten…

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Während draußen vor dem Haupteingang noch die letzten Fahnen im heftig wehenden Herbstwind gehisst werden, passieren wir die üblichen Sicherheitskontrollen und machen uns zielstrebig auf den Weg…

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Eine schnelle Orientierung weist uns den Weg zu unserem traditionell ersten Anlaufpunkt, der Halle 3. Nach all den Jahren finden wir unseren Weg ohne großes Nachdenken. Im Gegensatz zu den Vorjahren starten wir unsere Erkundung aber in Halle 3.1, dem Obergeschoss, direkt bei einem unserer Lieblingsverlage, S. Fischer…

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Auch wenn man bei S. Fischer offenbar nur begrenzte Getränkevorräte vorgesehen hat für diese Messe und auch diese nur für „Gäste des Hauses“ – wer immer dies sein mag – drücken wir ob dieser kleinen Unhöflichkeit doch beide Augen zu bzw. schauen über diese unsoziale Attitüde hinweg. Schließlich sind wir nicht zum Trinken hier, sondern um einen alten Freund zu begrüßen…

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…dessen final gültige Biographie soeben erschienen ist, hier bei S. Fischer. Gareth Stedman Jones hat in Karl Marx – Die Biographie mit wirklich akribischer Verbissenheit alles zusammengetragen, was es zu Karl Marx‘ Leben zusammenzutragen gab. Inklusive charmanter Anekdoten, die ein ums andere Mal aufzeigen, dass der brillante Gesellschaftstheoretiker und Analytiker der sozialen Zustände seiner Zeit alles andere war als ein pragmatischer Held des Alltags. Trotzdem oder gerade deswegen ein sehr empfehlenswerter Lesestoff, der gerade heute mit dem Abstand vieler Jahrzehnte Zustände und Zusammenhänge offenlegt, die einen Großteil der Geschichte des 20. Jahrhunderts begründen. Unser ERSTER LESETIPP!

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Doch leider sind Marx‘ Utopien schon lange nicht mehr die unsrigen. Hat sich die Welt rundum doch sehr viel schneller weitergedreht als er es ahnen konnte. Doch wie steht es überhaupt um Utopien? Vergangenen Regierungen, aber mindestens eben so sehr der derzeitigen und wohl erst Recht der kommenden fehlt es ganz generell an irgendeiner Form von politischer Vision, geschweige denn einer gesellschaftlichen Utopie, für die zu streiten es sich lohnt. Wie gut, dass da Rutger Bregman in die Bresche springt und bei Rowohlt mit sehr klaren Worten seine „Utopien für Realisten“ präsentiert. Für uns ein Lesetipp zumindest für all jene, die sich noch trauen, über ihren Tellerrand hinauszuschauen.

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Wer mit Utopien hingegen weniger am Hut hat und eher seriöser literarischer Zerstreuung zugetan ist, dem sei der neue Paul Auster ans Herz gelegt. Hinter dem kryptischen Titel „4 3 2 1“ verbirgt sich ein großer Wurf: Bildungsroman und Geschichtsbuch in einem und zugleich vier Bücher in einem, vier Viten ein und vielleicht doch nicht derselben Person, die alle Höhen und Tiefen des Heranwachsens und der eigenen Zeit erlebt und erleidet – vier Varianten des Lebens von Archie Ferguson, rätselhaft, komplex, auf verwirrende Weise miteinander verbunden. Ein Opus Magnum, das höchsten Respekt einfordert. Und deshalb unser unbedingter ZWEITER LESETIPI! Ebenfalls verlegt bei Rowohlt.

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Könnte es zur literarischen Wucht eines Paul Auster einen größeren Kontrast geben als den dünnen Band „Statusmeldungen“ der Wienerin Stefanie Sargnagel? Ursprünglich mit Facebook Posts berühmt geworden hat die unter- und hintergründige Österreicherin hier auf angenehm wenigen Seiten eine herrlich witzige Abrechnung mit den zu Unrecht so genannten „Sozialen Medien“ niedergeschrieben. Was ihr ohne Zweifel einmal mehr Hasstiraden insbesondere österreichischer Überkonservativer, Vegetarier, Veganer oder von wem auch immer eintragen wird. Eben all jener, die sich von dieser Form böser, bitterböser Satire auf den Schlips getreten fühlen. Erscheinen bei Rowohlt und ein sakrisches Lesevergnügen – und jawoll, natürlich unser DRITTER LESETIPP!

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Womit wir uns hinab begeben ins Parterre der Halle 3, neudeutsch als Halle 3.0 bezeichnet. Dort also, wo die Gräfe und Unzers wohnen und allerlei sonstige Kochbuchverlage. Um die wir einen Bogen machen, sind wir doch auf der Jagd nach ganz anderen Erbauungen. Und ja, natürlich werden wir umgehend fündig…

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Es war ja schließlich zu erwarten, dass Deutschlands Vorzeigephilosoph Richard David Precht sich diese wie schon jede andere Buchmesse nicht entgehen lässt. Diesmal treffen wir ihn am Stand des SPIEGEL. Wo er sein neuestes Werk promotet. Ach, wieso kommt dieser Mann, der durchaus die Lage der Nation präzise auf den Punkt zu bringen weiß, immer ein wenig zeigefingerhaft daher? So Recht er auch hat, der Precht, er strengt uns an. Weshalb wir auch schleunigst weiter eilen…

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…vorbei an aufgehängten Autoren…

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…um bei Hanser auf das epochale „Das Floss der Medusa“ zu stoßen. Was für ein Buch! Wenn auch keines für Leser mit schwachen Nerven. Franzobel, eigentlich Franz Stefan Griebel, stellt basierend auf einer historischen Begebenheit, dem Untergang der Fregatte Medusa anfangs des 19. Jahrhunderts die Frage nach etwas Urmenschlichem, nämlich: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um zu überleben? Dieses Buch ist ohne Zweifel das beste seiner bisher 15 literarischen Werke. Mit Abstand. Brutal, ergreifend und überaus plastisch. Nun ja, ein wenig zu plastisch allerdings. Denn die Szenen dessen, was sich auf dem Floß der vom Kapitän der sinkenden Medusa ausgesetzten Überlebenden abspielt, die sich nicht in Rettungsboote zu retten vermochten, wirken doch sehr stark um des schnöden Effekts willen aufgebläht. Zuviel Horrorvideo. Aber die grundsätzliche Idee besticht trotzdem. Auch wenn es nicht ganz für einen Lesetipp reicht. Schade.

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Mit welch leichter Hand kommt da doch Sten Nadolnys „Das Glück des Zauberers“ daher. Erschienen bei Piper und von uns bereits kürzlich anlässlich der ersten öffentlichen Lesung auf Schloss Johannisberg im Rheingau bereits rezensiert. Und aufgrund luftiger Poesie und niemals vordergründiger Effekthascherei der längst fällige VIERTE LESETIPP!

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Wie wir so durch die noch nicht gar so vollen Gänge eilen, stolpern wir über – ja, über wen wohl? Geht es doch im Zeichen des Ehrengastes Frankreich um genau das, was er selbst so schätzt, der Ulrich Wickert: französische Lebens- und Lesart. Wir folgen seinem Blick und finden…

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…einen Berg französischer Literatur. Wobei uns einmal mehr auffällt, wie wenig wir doch über die Literaturszene unseres nächsten westlichen Nachbars wissen. Ein Grund mehr, sich bei dieser Buchmesse genauer mit der Materie zu beschäftigen. Wir beginnen also in dem Stapel zu graben…

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Antoine Laurain. Aha. Soso. Wir blättern ein wenig in „Die Melodie meines Lebens“, lesen wie gewohnt die erste, zwei, drei mittlere und eine der letzten Seiten an und siehe da: Was vom Titel her eher nach einer schnulzigen Lebensgeschichte klingt, offenbart sich als durchaus subtile Gesellschaftskritik. Ausgelöst durch die um 33 Jahre verspätete Zustellung eines Briefes, der im längst saturierten Protagonisten des Romans alte Erinnerungen und Wunden abbrechen lässt. Mehr als nur ein nostalgischer Trip zurück in die Sünden der 80er Jahre entspinnt sich. Durchaus eine Entdeckung. und ein vorsichtiger FÜNFTER LESETIPP!

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Mannomann! Der Mann ist wirklich omnipräsent: wenige Meter weiter stolpern wir bereits zum zweiten mal über Herrn Wickert. Diesmal am Stand der Süddeutschen Zeitung vertieft ins Podiumsgespräch um die kulinarischen Richtlinien und Gepflogenheiten im Pariser Elyssee-Palast.

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Da zieht es uns dann eher zum Stand des Vorwärts Verlags. Wo in regem Wechsel gesellschaftspolitisch relevante Themen diskutiert werden. In unserem Fall diskutierten Klaus-Jürgen Scherer und Autor Norbert Bicher, moderiert von Karin Link, „Mut und Melancholie“. Ein spannendes Zeitdokument zur Befindlichkeit der Bonner Republik. Erschienen im Bonner Dietz Verlag. Tja, so lange ist das noch gar nicht her. Vielleicht kein Lesetipp, aber ein für politisch Interessierte eine gute Empfehlung, um hinter die Kulissen der Macht jener Tage zu blicken.

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Härter könnte der Kontrast kaum sein! Zu unserem SECHSTEN LESETIPP stehen wir wieder uneingeschränkt. „Der Klang der Maschine“ ist die Autobiographie von Karl Bartos. Und damit zugleich jene der legendären und bis heute wegweisenden Düsseldorfer Band Kraftwerk, deren Komponist Karl Bartos war. erschienen im Eichborn Verlag ist dieses Buch ein absolutes Muss für alle Kraftwerk-Fans. Und darüber hinaus. Denn es steht exemplarisch für ein Kreativkonzept, das bis heute weltweit die Musikszene inspiriert. Warum das so ist und wie es dazu kommen konnte, das ist ausgesprochen spannend zu lesen. Erschienen im Eichborn Verlag, der mittlerweile zu Bastei Lübbe gehört und seine Unabhängigkeit aufgeben musste, wie Insider wissen.

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Wir versuchen uns nun ein wenig von unserer Bücherschau zu erholen – morgen ist ja auch noch ein tag – passieren am Stand der ZEIT ein aus dem TV vertrautes Gesicht, das sich um unsere Kapitalanlagen verdient machen möchte und enden für diesen ersten Messetag schließlich leicht erschöpft, aber guten Mutes, bei der ARD…

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…wo Robert Menasse, mit seinem Buch „Die Hauptstadt“ frisch gekürter Träger des Deutschen Buchpreises 2017, sichtlich vergnügt sein Konzept und Denkmodell einer aus dem Nichts zu erschaffenden neuen gesamteuropäischen Hauptstadt vorstellt. Was nur ein winziger Aspekt eines süffisanten Versuchs ist, Brüsseler Bürokratie literaturfähig zu machen. Rundum gelungen. Und auch wenn wir später nochmals auf diesen Knaller zurückkommen, unser für heute abschließender SIEBTER LESETIPP.

Nun erholen wir uns erst einmal bei einem leckeren Cidre und einem Boef Bourguignon im Pavillon des Ehrengastes 😉 Morgen sehen wir uns wieder. Au revoir!

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