Vorgestellt anlässlich der letztjährigen Frankfurter Buchmesse hatten wir mittlerweile Gelegenheit, John und Doris Naisbitts neues Standardwerk ‚Chinas Megatrends – Die 8 Säulen einer neuen Gesellschaft‘ ausgiebig zu lesen. Und auch wenn uns der Inhalt dann doch nicht so beeindruckt hat wie Prof. Harro von Sengers ebenfalls hier im Café bereits besprochendes Buch ‚Moulüe‘, müssen wir doch zugeben, dass das neue Werk des weltweit renommiertesten Zukunftsforschers und seiner Gattin a) nicht von schlechten Eltern und b) durchaus spannend in seiner Analytik ist…
Worum geht’s also in diesem Fachbuch-Bestseller aus dem Hanser Verlag? Eines der wenigen Bücher eines westlichen Autorenpaars übrigens, das in China selbst eine womöglich noch wesentlich weitere Verbreitung erreicht als hierzulande. Was, auch das muss man sich wohl eingestehen, durchaus sehr ambivalente Gründe haben mag. Denn man kann – soviel gleich vorweg gesagt – John Naisbitt nicht absprechen, dass er eine ganz besondere Hochachtung für die Volksrepublik hegt und bewusst oder unbewusst Felder ausklammert, die Anlass zur Kritik an der kommenden ökonomischen Supermacht des Planeten böten.
Andererseits muss man dem Autor zugestehen, dass er nicht in den vielstimmigen Chor der China-Basher einstimmen mag, die nur das an China wahrnehmen wollen, was ihre drei wichtigsten Vorurteile unterstützt: China unterdrückt und verletzt die Menschenrechte, China produziert minderwertige Massenware, China kopiert hemmungslos westliche Markenartikel.
Worum also geht es in dem Buch, und was ist mit den acht Säulen gemeint, auf denen der unbestritten rasante Aufschwung von Asiens Führungsmacht beruht?
Die Naisbitts sind nach häufigen, langen und intensiven Besuchen und Gesprächen und damit eigener Anschauung zutiefst überzeugt davon, dass China auf dem Weg in ein neues Gesellschaftssystem ist. Ein Gesellschaftssystem, das man als „vertikale Demokratie“ bezeichnen könnte. Und zudem ein System, das sich mit dem Begriff „Sozialismus“ nur sehr unzureichend beschreiben lässt. Das sich selbst neu Erfinden Chinas nimmt Rücksicht auf die grundsätzlich von den unseren verschiedenen Wertvorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse der Chinesen und ist damit durch die rosarote Wertebrille unseres abendländisch humanistisch geprägten Demokratieverständnisses allenfalls verzerrt wahrnehm- und geschweige denn bewertbar.
John Naisbitt, der wie kaum ein anderer „Westler“ Zugang zu selbst den höchsten Kreisen der chinesischen Parteihierarchie und Gesellschaft hat, kommt in seinem Buch durchaus schlüssig, nachvollziehbar und spannend aus eigenen Beobachtungen abgeleitet zum Schluss, dass diese Säulen das Fundament der aktuellen chinesischen Gesellschaftsentwicklung darstellen – wobei ich die Inhalte durchaus verkürzt, hoffentlich aber nicht entstellt wiedergebe:
Säule 1: Emanzipation des Denkens – der offene Dialog zwischen Spitze und Basis
Säule 2: Entwicklung einer vertikalen Demokratie – basierend auf der Vision eine ausbalanciert harmonischen Gesellschaft
Säule 3: Abstecken eines Rahmens von Ordnung und Harmonie – innerhalb (und nur innerhalb!) dessen jeder Bürger seine eigene Rolle gestalten kann
Säule 4: Zulassen von Versuch und Irrtum – statt starre Richtungsvorgaben abzuarbeiten, experimentieren und Risiken eingehen
Säule 5: Künstlerische und intellektuelle Inspiration – keine materielle Zivilisation ohne spirituelle Zivilisation
Säule 6: Prägender Teil der Weltgemeinschaft werden – mit durchaus aggressivem wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Engagement in der Welt
Säule 7: Balance zwischen wirtschaftlich Machbarem und politisch Wünschenswertem – mit der Freiheit ruhmvollen Reichtums für vielleicht Wenige und der Fairness, in der Masse soziale Absicherung zu gewährleisten
Säule 8: Anspruch, eine Innovationsgesellschaft zu werden – weg von der Werkbank und hin zur Denkfabrik der Welt
Ein Kernsatz aus Chinas Megatrends ist mir im Gedächtnis haften geblieben, charakterisiert er doch sehr plastisch das politische Grundverständnis der Chinesen: „Eine Regierung legitimiert sich allein durch ihren Erfolg.“
Darüber könnte man übrigens durchaus auch hierzulande einmal nachdenken, wenn ich mir das aktuelle Polit-Desaster in Berlin anschaue…
Fazit also: Ein unbedingt lesenswertes Buch gerade in Zeiten, wo es schick ist, China auf leider sehr eindimensionale Weise zu kritisieren. Kritik mag berechtigt sein, sie ist jedoch ohne den Blick auf das Gesamtbild China und seine bisherige Reise entlang der Zeitachse einseitig, tendenziös und keinesfalls geeignet, zu verstehen, wie China im Innersten funktioniert und was wir – die wir im Glashaus sitzend so gerne mit Steinen werfen – möglicherweise daraus an Erkenntnissen für unsere eigene Gesellschaft gewinnen können.
Tags: 8 Säulen, China, Chinas Megatrends, Hanser Verlag, John Naisbitt, Rezension, Volksrepublik
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