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Schokolade

Der Anfang nach dem Ende

Veröffentlicht in Gesellschaft, Medien | 02. Februar 2008 | 11:30:16 | Dirk Kirchberg

Ende Januar wurde bekannt, dass ein Trader der Société Générale, Jérôme Kerviel, rund 5 Milliarden Euro mit halsbrecherischem Futures-Handel und Scheingeschäften versenkt und dabei alle Sicherheitsmaßnahmen ausgetrickst hat. Hollywood hat schon Interesse an der Geschichte gemeldet.

Ein anderer Finanzskandal wurde bereits 1999 mit Ewan McGregor verfilmt. McGregor spielte den Börsenhändler Nick Leeson.

Das Buch, das als Vorlage für den Film diente, fiel mir Ende 2005 in die Hände. Vieles klang so unglaublich, dass ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen, dem Fotografen Martin Schlüter, 2006 beschloss, Leeson zu treffen.

Wir wollten den Menschen hinter den Schlagzeilen kennen lernen. Also reisten wir nach Irland, begleiteten und interviewten Leeson über einen Zeitraum von fünf Tagen.

Haben wir ihn kennen gelernt? Ich bilde mir ein, dass wir trotz der kalkulierten Professionalität unseres mit allen Medienwassern gewaschenen Gesprächspartners einen ganz kurzen Blick hinter die Maske erhaschen konnten. Entstanden ist damals die folgende Reportage.

Der Anfang nach dem Ende

Nick Leesons Büro ist ein weißer Container, etwa drei mal fünf Meter groß, kaum größer als die Gefängniszelle, in der er noch vor zehn Jahren saß. Heute ist er General Manager eines irischen Zweitliga-Fußballvereins. Im Alter von gerade mal 28 Jahren ruinierte er Englands älteste Bank, die Barings Bank, durch halsbrecherische Spekulationen auf dem asiatischen Börsenparkett. Leeson vertuschte Verluste, bis er Ende Februar 1995 aufflog, und das ganze Ausmaß seiner Machenschaften ans Licht kam: sein Schattenkonto mit der Nummer 88888 wies ein Soll von 1,4 Milliarden Dollar auf. Die 8, in Asien eine Glückszahl, hatte ihn im Stich gelassen, er sprichwörtlich die Bank gesprengt. So endete nach 233 Jahren die Ära der Bank, die die Kriege der englischen Krone gegen Napoleon finanziert hatte.

Hinter vergitterten Fenstern und von Mauern umgeben, sitzt Leeson in seinem Container, von dessen Art viele an der Küste Galways als Rettungsschwimmerstationen genutzt werden. Er telefoniert mit dem Handy. Vom Schreibtisch aus, auf dem ein Laptop und ein weiteres Telefon stehen, sieht er durch ein engmaschig vergittertes Fenster auf eine Betonmauer. Die Mauer ist etwa drei Meter hoch und fasst das gesamte Vereinsgelände des irischen Fußballzweitligisten Galway United samt des Stadions Terryland Park ein. Die vier Flutlichtmasten erinnern an Kameratürme, und das Vereinsgelände ähnelt mit der dicken Mauer einem Hochsicherheitsgefängnis. Drei Stahltore verwehren jedem den Zutritt, der nicht zum Verein gehört oder keinen Eintritt bezahlt hat.

1995 wollte Nick Leeson nicht in Singapur ins Gefängnis, denn dort drohten ihm mehr als 80 Jahre Haft. Er wollte nach England ausgeliefert werden, nachdem seine Flucht quer durch Asien schließlich auf dem Frankfurter Flughafen geendet hatte. Er ist Engländer, betrog und vernichtete ein englisches Unternehmen, und in Singapur wurde niemand geschädigt. Doch in England wollte man ihn nicht haben. Nicht einmal das Serious Fraud Office, das Amt für schwere Wirtschaftsverbrechen. Wahrscheinlich nutzten Mitglieder des Bankvorstands ihre alten Kontakte und übten politischen Druck aus. Schließlich stand viel auf dem Spiel. Zu viele kompromittierende Details des Missmanagements hätten durch eine Verhandlung in England ans Tageslicht gelangen können.

Die Bank war wie zu Zeiten der Kolonialherrschaft geführt worden – überheblich und träge. Solange der Profit stimmte, wurde nicht kontrolliert. Zu diesem Schluss kamen nach dem Finanzdesaster unabhängige Finanzexperten in Singapur. Eine Kommission in England sah dagegen Leeson als den alleinigen Schuldigen.

Nach mehreren Monaten Untersuchungshaft wurde Nick Leeson nach Singapur ausgeliefert, wo er jahrelang zu den begabtesten Börsenhändlern gezählt und Millionengewinne generiert hatte. Er musste an den an den Ort zurückkehren, an dem er einst den Markt nach Belieben zu beherrschen schien.

Er wurde zu sechseinhalb Jahren im Tanah Merah Gefängnis verurteilt. Er war zu Recht verurteilt worden, keine Frage. Er hatte immerhin gelogen, betrogen und Unterlagen gefälscht. Die Zelle, zwei mal vier Meter groß mit Loch im Boden, das als Toilette diente, teilte er sich mit zwei weiteren Gefangenen. Einer der beiden war ein Mörder. Fast alle Inhaftierten gehörten den Triaden an, der asiatischen Mafia. 23 Stunden am Tag hockte Leeson eingeschlossen in der Zelle.

Er stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch, sein Blick verliert sich im Raum. Er schaut nicht aus dem Fenster, sieht nicht auf die Mauer. Er beendet sein Telefonat, bittet ins Vereinhaus, einem einstöckigen Bau an der Kopfseite des Fußballplatzes. Im ersten Stock befindet sich der VIP-Bereich, wenn es denn in der zweiten irischen Fußball-Liga besonders wichtige Personen überhaupt gibt. Von hier oben aus hat Leeson das gesamte Vereinsareal im Blick: das Stadion, die Tribüne mit rund 2500 Sitzplätzen, die Mauer. Aber auch den Himmel, den Horizont.

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Durch die bis zum Boden reichenden Fensterscheiben strömt Tageslicht. An den Wänden hängen Fotos ehemaliger United-Mannschaften, auf einem Regal stehen angestaubte Pokale. Die Etage erinnert an die Kommandobrücke eines Schiffs. Es fehlt nur ein Steuerrad. Seit April 2005 ist Nick Leeson Kapitän des Vereins, sein Steuerrad ist das Telefon. Es klingelt am laufenden Band. Er hat kaum eine freie Minute.

Im Gefängnis dagegen hatte er mehr als genug Zeit. »Ich habe viel gelesen. Ich musste lernen, zu überleben. Jemand aus den USA schickte mir jeden Monat zwanzig Bücher. Ich weiß bis heute nicht, wer das war.« Wohl jemand, der weiß, wie eintönig der Knastalltag ist. Leeson las und trainierte, hielt Geist und Körper fit. Lenkte sich ab, dachte über sein Verbrechen nach. Kämpfte. Gegen die Zeit, um sein Leben. Dann die ersten Symptome. Seit Wochen plagten ihn Magenkrämpfe. Er war schwach, fühlte sich elend, verlor Gewicht. Die Diagnose: Prostatakrebs. Operation, zurück in die Zelle. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Er nahm es zur Kenntnis. »Ich brauchte jemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Ich schätze, sie war nicht diese Person.«

Leeson und Barings, diese Kombination verspricht auch heute noch Interesse – und Geld. Hollywood verarbeitete die Geschichte in einem Film mit Ewan McGregor als Nick Leeson. Und Leeson reist jeden Monat für After-Dinner-Vorträge durch die Welt, um bei Firmenfeiern und Kongressen seine Version der Geschichte zu erzählen. Hongkong, London, Schweden, Texas, Frankfurt. Die Vortragshonorare machen sein Haupteinkommen aus. Leeson ist ein gerngesehener Gast, ein guter Unterhalter und einer der bestbezahlten Redner Großbritanniens.

Auch wenn er längst ein Medienprofi ist, verfolgt er nicht, was über ihn geschrieben wird, weiß nicht, dass Google rund eine halbe Million Internetseiten auflistet, wenn man seinen Namen sucht. Er gibt dennoch immer wieder Interviews, weil er weiß, dass auch der Verein vom Interesse an seiner Person profitiert. Leeson bleibt stets professionell, gelassen, fast schon gelangweilt, lehnt sich weit auf den Tisch. Keine Frage, keine noch so direkte, scheint ihn aus der Reserve locken zu können. Man rechnet jede Sekunde damit, dass er den Kopf auf die Arme legt und ein Nickerchen macht. »Ich habe keine Leichen im Keller, mit denen man die Welt schockieren könnte.«

Leeson steht zu seinem Verbrechen, sucht keine Ausflüchte. »Ich stehe aber nicht jeden Morgen auf und entschuldige mich als erstes.« Ist er ein geläuteter Verbrecher, gar zum Gläubigen geworden? »Ich war und bin nicht religiös. Meine Frau und die Kinder sind katholisch. Und natürlich gehen wir zusammen in die Kirche. Aber an Gott glaube ich deswegen noch lange nicht.«

Seine Frau Leona stammt aus Galway, und in die Stadt an der Westküste Irlands geht er 2003 mit. Leeson will nicht, dass Leona und ihre beiden Kinder Kirsty und Alex ihr Leben seinetwegen ändern. »Ich war nicht an England gebunden. Mein Geld verdiene ich eh auf der ganzen Welt. Da konnte ich genauso gut nach Irland gehen.« Eines Tages liest er in der Zeitung eine Stellenanzeige, die sein Interesse weckt: der örtliche Fußballverein Galway United sucht einen Commercial Manager, also jemanden, der Finanzpläne aufstellen kann und Sponsoren gewinnen soll. Zahlen — damit kennt sich Leeson aus. Er bewirbt sich. Und bekommt den Job. Im April 2005 tritt er seinen neuen Posten an. Nun hat er nach zehn Jahren wieder eine feste Anstellung.

Er kniet sich rein in die Arbeit, sucht immer den direkten Weg zur Lösung eines Problems, geht auf die Menschen zu, redet Klartext, akzeptiert keine Ausreden. Er führt den Verein, wie er als Junge Fußball gespielt hat. Damals war er Verteidiger und wurde von seinen Mitspielern als uncompromising beschrieben, was kompromisslos, aber auch hundertprozentig bedeuten kann. Und genauso führt er jetzt seinen Verein.

Doch an die Langsamkeit des Lebens in Irland muss sich Leeson erst gewöhnen. Er muss geduldig werden. Auch heute noch gibt es Momente, in denen er frustriert ist, mit dem Tempo der Menschen hadert. So muss er vier Tage auf einen neuen Scheibenwischer für sein Auto warten. Viel Zeit in einem Land, in dem sich das Wetter innerhalb von fünf Minuten komplett ändern kann. Zuviel Zeit für jemanden wie Nick Leeson, der es nicht schätzt, wenn etwas ihm die freie Sicht auf das vor ihm Liegende versperrt.

Passenderweise war es ein über die Stadionmauer geschossener Fußball, der den Wischer an Leesons grauer A-Klasse demolierte, während des Heimspiels von United gegen Cork City, dem letztjährigen Pokalsieger. »Das kann nur einer von Cork gewesen sein. Wir hatten keinen einzigen Torschuss.«

Leeson fährt Auto wie er Entscheidungen trifft. Geradlinig, zügig, ohne Schnörkel. Er mag keine Umwege oder Verzögerungen. Als jedoch auf dem Weg zu einem Fototermin ein braun-weißer Cocker Spaniel seinen Weg kreuzt und vom heranrauschenden Auto unbeeindruckt über die Straße wackelt, muss Leeson vom Gas und schmunzelt: »Hat der ein Glück, dass ich für Tiere bremse.« Die Frage, ob er auch für Mitmenschen bremst, bleibt unbeantwortet in der Luft hängen.

Mannschaftsmanager Steven Lally beschreibt den Führungsstil Leesons so: »Wenn jemand sagt “Das mache ich morgen”, fragt Nick “Warum machst Du es nicht jetzt?”.« Leeson arbeitet zielorientiert, setzt anscheinend die richtigen Prioritäten. So gewinnt er innerhalb von wenigen Wochen einen neuen Hauptsponsor. Leeson will den Club zurück in die erste irische Liga und dann ins europäische Geschäft führen. »Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir es schaffen können, hätte ich den Job nicht angenommen. Ich will hier etwas schaffen, das Bestand hat.«

Nach nur acht Monaten ernennt der Vorstand Leeson zum General Manager. Jetzt hat er die volle Verantwortung für den Verein. Leesons Art, die Dinge anzupacken, gefällt nicht jedem. Aber er hat Erfolg. »Sicher haben sich einige Türen nach meiner Berufung geschlossen. Dafür haben sich aber andere geöffnet.« Er ist zufrieden, hat sich zusammen mit Leona und den Kindern ein Haus gebaut, ein neues Zuhause geschaffen, Wurzeln geschlagen. 2004 wird sein Sohn Mackensy geboren: »Ich will ihn aufwachsen sehen, will, dass er ein erfülltes Leben führen kann.«

In Singapur sprach er mit niemandem über seine Probleme, fraß alles in sich hinein, war darum bemüht, sein Image zu bewahren. Heute teilt er seine Sorgen mit Vertrauten: »Vielleicht bin ich heute manchmal zu ehrlich. Aber ich fresse nichts mehr in mich hinein. Und ich bin nicht mehr geblendet von mir selbst.«

Für Außenstehende scheint er in den meisten Situationen abgeklärt, fast kühl. Beim zweiten Fototermin morgens um kurz nach acht an der Galway Bay wirkt er weicher als sonst. Er schaut auf die umliegenden Klippen, erzählt, dass er dort im Sommer manchmal wandern geht. Müde sieht er aus. Schlecht geschlafen. »Leona und die Kinder sind in Dublin. Das Haus ist leer und still. Zu still. Ich habe ab fünf Uhr gearbeitet.«

Freitagabend. United spielt auswärts gegen die Bohemians. Vorbereitung auf die kommende Saison. Es ist kalt, um null Grad. Leichter Regen fällt auf den Rasen und gefriert. Die Feuchtigkeit wabert als Nebel über den Platz. Während seine Mannschaft auf dem Feld kämpft, steht Leeson am Stadioneingang und telefoniert, schüttelt Hände. Seine monatliche Handyrechnung liegt zwischen 500 und 600 Euro. Erst Mitte der ersten Halbzeit gesellt er sich zu den Fans. Er hat verpasst, wie sich beide Mannschaften bereits nach drei Minuten fast prügelten. Die Härte, mit der die Spieler in die Zweikämpfe gehen und für die es in Deutschland massenhaft Gelbe Karten gäbe, wird hier nicht einmal gepfiffen. Das soll ein Freundschaftsspiel sein? »Die kommen aus Dublin«, antwortet Leeson mit einem Zwinkern. Der neue United-Verteidiger, den Leeson kürzlich unter Vertrag genommen hat, scheint nach seinem Geschmack zu spielen. Fair, hart, direkt. »Der macht keine halben Sachen.« In seiner Stimme schwingt Anerkennung mit.

Als ein United-Spieler dann so schwer verletzt wird, dass er ärztlich behandelt werden muss, reckt Leeson aufmerksam den Kopf. Die beiden eigens für das Spiel engagierten Sanitäter schlendern gemächlichen Schrittes an der Seitenlinie entlang, behandeln den Spieler nur kurz und setzen sich wieder in ihren im Leerlauf tuckernden, warmen Rettungswagen. Der Spieler dagegen wird von zwei Mannschaftskameraden gestützt und humpelt Richtung Kabine. Leeson scheint verärgert, lässt sich aber kaum etwas anmerken. Fast unbeteiligt steht er in zweiter Reihe am Spielfeldrand und schaut sich die Szene an, wendet sich dann wieder der Partie zu, die noch an Härte gewinnt. Die Sanitäter stellt er später hinter verschlossenen Türen zur Rede. Bezahlen wird er sie nicht.

Auf dem Platz schreien die Spieler ohrenbetäubend laut durcheinander. Kaum eine gebrüllte Parole, die ohne fucking auskommt. Leise bemerkt Leeson: »Die Sprache ist entsetzlich.«

Es wird geflucht, die Spieler werfen sich Handzeichen zu, fuchteln wild mit den Armen. Ihre bunten Fußballtrikots sehen aus wie die farbenprächtigen Jacketts der Börsenhändler in Singapur. Die Chinesen trugen rote, die von Barings waren gelb-blau. Die Szene erinnert an das wilde Durcheinander auf dem Börsenparkett, auf dem Leeson an so manchem Tag wie im Rausch 50 Millionen in den Sand setzte. Doch heute ist Leeson nicht mittendrin, schreit nicht herum, fuchtelt nicht mit Handelszetteln. Er steht still am Rand, schaut ruhig zu und schweigt. Er mischt sich nicht ein in das Wirrwarr der Stimmen. Sein Spielfeld ist heute ein anderes.

Anmerkung: Leeson arbeitet immer noch für Galway United, ist aber nicht mehr nur kaufmännischer Geschäftsführer, sondern mittlerweile Hauptgeschäftsführer.

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2 Antworten zu “Der Anfang nach dem Ende”

  1. 04. Februar 2008 um 13:57:47 | Roland Müller sagt:

    Spannend, Dirk! Vielleicht sollten wir so ein Interview auch mit dem Monsieur von der SocGen machen? ;-))
    Ansonsten bleibt höchstens noch nachzutragen, dass Nick Leeson eine Homepage hat: http://www.nickleeson.com/, über die er wie schon gesagt als After Dinner Speaker gebucht werden kann und dass er in diesen Tagen aus bekannten aktuellen Anlass häufig Interviewanfragen bekommt – zum Stückpreis von 500 EUR, gegebenenfalls zu spenden an Galway United. Hm, und Galway United spielt mittlerweile natürlich in der Ersten Liga…

    analoge Grüße (Roland)

  2. 04. Februar 2008 um 19:48:25 | warlord sagt:

    Das Interview mit dem Monsieur der SocGen hat ja die französische Finanzpolizei schon geführt. 😉 Einen übersetzten Auszug aus dem Einvernahmeprotokoll gibts hier zu lesen:
    http://www.nzz.ch/nachrichten/startseite/ueber_das_resultat_bin_ich_stolz__aber_auch_verbluefft_1.664749.html