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Moulüe – Die Entschlüsselung Chinas auf 426 Seiten

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Literatur, Politik | 01. Dezember 2018 | 11:21:49 | Roland Müller

Mit der zunehmenden Eskalation des politischen und ökonomischen Verhältnisses zwischen den USA und der VR China – getrieben durch einen von Mr. Trump angezettelten Handelskrieg – wird es um so wichtiger zu verstehen, welche Strategien, Planungsziele und Denkhorizonte die chinesische Führungsebene bewegen, so zu handeln wie sie handeln. Mit der nun vorliegenden, umfangreich überarbeiteten und aktualisierten zweiten Auflage  von „Moulüe – Supraplanung“ legt Prof. Harro von Senger im Hanser Verlag erneut und nachdrücklich jenes Buch vor, das wie kein anderes ermöglicht, China in die Karten zu schauen. Wir haben es gelesen…

Der eine oder andere Leser unseres Magazins mag sich vielleicht noch erinnern, dass wir vor Jahren die Erstauflage des besagten Werkes bereits einmal gelesen und enthusiastisch besprochen hatten. Und zwar hier. Ausgehend von einem ausführlichen Interview, das wir eine Weile später mit Prof. von Senger in Freiburg geführt haben, können wir heute mit Bestimmtheit sagen: Ja, die zweite Auflage des um viele Seiten angewachsenen und intensiv aktualisierten Buches über „Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte“ ist und bleibt mehr denn je das wichtigste Buch zum Verständnis des Agierens der VR China in diesem wechselhaften 21. Jahrhundert.

Beispiele gefällig? Nun, da muss man nicht weit ausholen und kann gleich nach der umfangreichen Einleitung, in der Harro von Senger mit wissenschaftlicher Akribie aufführt, wie seine Prognosen und Erkenntnisse aus der ersten Auflage durch chinesisches Handeln in den vergangenen zehn Jahren bestätigt wurden, mit Sun Tsu einsteigen. Meister Sun, auch Sun Zi oder eben Sun Tsu genannt, hat mit seinem berühmten „Kriegskanon“ ein Werk geschaffen, das in einem so spannenden wie grundsätzlichen Kontrast zu Carl von Clausewitz„Vom Kriege“ steht, der Basis westlicher gewaltbetonender Militärdoktrin. Laut Harro von Senger lässt sich das heutige chinesische Planungskonzept „Moulüe“ auf diese jahrtausendealte Schrift zurückführen, deren Kernsatz lautet: „Bu zhan er qu ren zhi bing shan zhi shan zhe ye“. Entgegen zahlreicher westlicher Übersetzungen von Roger Ames bis Henry Kissinger, die diesen Satz in etwa mit „Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“ übersetzt haben, zieht von Senger auf dem Konzept von Moulüe (Supraplanung) fußend eine wörtliche Übersetzung vor. Und die offenbart Überraschendes. Denn da im Originaltext das Wort di für Feind oder Gegner gar nicht vorkommt, verzichtet auch die wortgetreue deutsche Übersetzung darauf: „Ohne einen Waffengang die Streitmacht der Männer der Gegenseite gefügig machen ist erst das Gute vom Guten.“ Hoppla! Kein westlich geprägtes Feinddenken? Schau‘ an.

Harro von Senger schlussfolgert, dass es laut Meister Suns Kriegskanon darum geht, nicht erst einen tatsächlichen Feind, sondern weitblickend (Zitat) ein Gegenüber mit einem in ferner Zukunft gefährlichen Potenzial durch unkriegerische Mittel zu einem Zeitpunkt vorsorglich botmäßig zu machen, in dem eine offene Feindschaft noch gar nicht ausgebrochen ist, vielleicht sogar eine Partnerschaft besteht (Zitat Ende). Hierin schwingt eine jahrtausendealte Strategemkunde mit und ein Muster, das sich durch die ungebrochene Kultur- wie Kriegsgeschichte Chinas zieht wie ein roter Faden. Woran erinnert uns dies außerdem? Natürlich! An die aktuelle Situation zwischen der VR China und den USA. Auch hier drängen sich dem aufmerksamen Beobachter (und davon scheint es im Westen allzuwenige zu geben) Anzeichen auf, wonach China einen konkreten politischen und sehr langfristigen Generalplan verfolgt, der weitsichtige supraplanerische und strategemische Vorgehensweisen offenbart. Weiter führt von Senger aus, dass bereits im Verhältnis zu Taiwan diese Form der Supraplanung gegriffen hat. Er unterfüttert dies mit durchaus eindrucksvollen Zahlen. Wie er überhaupt durch das ganze, immerhin mehr als 400seitige Buch hindurch keine Beweise schuldig bleibt. Wobei dem nicht nur unserer Meinung nach führenden Kenner Chinas aufgrund seiner Sprachkenntnisse und teils langen Chinaaufenthalte Primärquellen zugänglich sind, die den allermeisten Journalisten verschlossen bleiben –  wie auch jedem anderen, der China nur aus dem Westen denkt. Es ist im Rahmen einer Rezension wie dieser müßig, alle wesentlichen Passagen des Buches hier zu besprechen und zu bewerten. Dafür ist Moulüe – Supraplanung einfach zu umfangreich und übervoll mit Beispielen. Auch und gerade, wenn der Autor nach der grundsätzlichen Einführung in die Materie sich ausführlich mit dem Sinomarxismus auseinandersetzt, also jener sehr spezifischen Variante des Marxismus, die im Reich der Mitte propagiert und umgesetzt wird. Nach und nach offenbart sich die ungemein langfristige strategische Planung der VR China, die hoch detailliert bis zur Mitte des Jahrtausends und darüber hinaus reicht und offenbar mit allem Nachdruck eines diktatorischen Einparteienstaates um- und durchgesetzt wird. Dass wichtige Etappenziele schneller erreicht werden als Deng Xiaoping und aktuell Xi Jinping mit ihren normativen Vorstellungen dies selbst geplant haben, sollte uns hellwach werden und vor allem unsere kulturell geprägte Strategemblindheit, sprich: Listenblindheit, ablegen lassen: Nach aktuellen Wirtschaftsprognosen des Centre for Economics and Business Research (CEBR) in London wird die chinesische Volkswirtschaft bereits 2032 die Vereinigten Staaten als größte Wirtschaftsmacht der Welt überholt haben. Die KPCh hatte dies Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wohl erst für den hundertsten Jahrestag ihrer Machtergreifung 2049 angestrebt…

Unser Fazit nach einer schier atemlosen Lektüre: Diese zweite, umfangreich ergänzte und aktualisierte Auflage von Prof. Harro von Sengers Standardwerk zur Supraplanung im Reich der Mitte ist der wichtigste Schlüssel zum Verstehen dessen, was in China und wichtiger noch, in der zunehmend von Peking geprägten Welt, derzeit vorgeht. Und ein Stück weit erklärt es auch die fast panisch zu nennenden (Über)reaktionen der derzeitigen US-Regierung im Umgang mit der VR China. Wird der Westen langfristig eine Chance haben gegen die Strategemgewandheit Chinas? Ohne tieferen Einblick in Moulüe darf dies mit Fug und Recht bezweifelt werden. Unsere Empfehlung für jeden halbwegs politisch und ökonomisch interessierten Zeitgenossen: Dieses Buch lesen und China entschlüsseln! Und noch ein Hinweis: Wer am 21. Januar 2019 zufällig in München weilt, sollte sich Prof. von Sengers dortigen Vortrag zum Thema ‚Sinomarxismus‘ nicht entgehen lassen…

Harro von Senger: Moulüe – Supraplanung Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte; 2., überarbeitete Auflage, erschienen im Hanser Verlag, München 2018; Print-ISBN: 978-3-446-45525-2

Das Rezensionsexemplar wurde uns freundlicherweise vom Hanser Verlag zur Verfügung gestellt.

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