Frankreich. Welch ein Bündel von Klischees. Angefangen mit dem kleinen, einfallsreichen Gallier, der sich über Jahrzehnte in nicht nur deutsche Herzen geschlichen hat und deshalb auch den Innenhof zwischen den Messehallen beherrscht. Wir machen uns mit großer Neugier auf die Suche nach dem, was Frankreich, französische Kultur, Sprache und Literatur ausmacht. Im Pavillon des diesjährigen Ehrengastes der Frankfurt Buchmesse, Frankreich…
Allzuviele Worte werden wir bei unserem Rundgang nicht machen. Lassen wir also die Eindrücke wirken. Das Design des Pavillons haben Studenten der Hochschule für Kunst und Design in Saint-Étienne entwickelt. Die Aufteilung der Raumbereiche simuliert den Kulturraum einer Stadt und bietet mehr als 100 AutorInnen die Gelegenheit, sich in einem entspannten Rahmen auszutauschen und ihre Arbeiten zu präsentieren. Umgesetzt wurde es unter der Leitung des Schweizer Kommunikationsdesigners Ruedi Baur. Und es ist definitiv zu kurz gegriffen, wollte man hier das Stichwort IKEA ins Spiel bringen. Das trotz der hohen Füllungsdichte – dazu später mehr – licht und filigran wirkende Geflecht der Holzstrukturen ergibt ein regelrechtes Literatur-Labyrinth, in dem man sich fast verlaufen könnte. In jedem Fall aber wirkt es heimelig und verführt dazu, sich hier länger aufzuhalten als vielleicht geplant. Die Bühne des LITERATUR PODIUMs ist permanent gefüllt und genutzt…
…wie beispielsweise zur Bekanntgabe der zweiten Auswahlrunde des renommiertesten französischen Literaturpreises Prix Goncourt. Die aufgespannten Regenschirme im Vordergrund rühren übrigens von einer Kunst-Performance her, die als eine von vielen im Pavillon inszeniert wird.
Großflächige zweisprachige Titel-Poster gliedern die nahtlos ineinander übergehenden Themeninseln des Pavillons. Hier jene, die sich mit den Übergängen und dem Austausch zwischen französischer und deutscher Sprache auseinandersetzt.
Sehr lebendig, das alles. Wozu auch die öffentlichen Veranstaltungen der Deutsch-Französischen Hochschule beitragen, die hier in einem eigenen Alkoven stattfinden.
Gut besucht von den Studenten.
Die Aspekte und Wirkungen der Digitalisierung auf die französische Literatur und ihre Rezeption wird in eigenen Installationen thematisiert und anschaulich gemacht.
Nicht unbeträchtlichen Raum nimmt eine Infowand ein, auf der die Geschichte des französischen Verlagswesens vom Anbeginn bis heute dargestellt wird. Sehr eindrucksvoll.
Während wir das Labyrinth durchqueren und in jeder Ecke Neues entdecken, treffen wir auf eine der zahlreichen Literatur-Performances, hier eine Gruppe Schüler, die mit einer eigenen Choreographie Klassiker der französischen und deutschen Literatur vortragen.
In einer eigenen Ecke wird das Werk des Elsässers Tomi Ungerer gewürdigt – sicher ein Wanderer zwischen beiden Sprachwelten und selbst im hohen Alter so provokant wie eh und je.
Durchblicke durch die Regalinstallationen sind immer wieder spannend.
Zumal eine Menge geboten wird. Zum Beispiel sind französische Autoren am Schweizer Nachbau einer historischen Gutenberg-Druckerpresse permanent damit beschäftigt, die ersten beiden Seiten ihrer jeweiligen Werke zu drucken…
…und an die Besucher zu verteilen. Ein sehr unmittelbares Erlebnis, das Spuren hinterlässt – nicht zuletzt auf den Händen der Drucker.
Die größte Überraschung zumindest für uns deutsche Besucher ist aber ohne Zweifel der dramatisch hohe Anteil der Bande Dessiné – des Comics – nicht nur an der Präsentationsfläche, sondern noch viel mehr am französischen Literaturbetrieb. Und das geht deutlich über die Asterix-Generation hinaus, die anlässlich dieser Buchmesse den neuesten Band „Asterix in Italien“ erwartet. Nein, allein die schiere Menge und Qualität französischsprachiger Gegenwarts-Comics erschlägt uns schier!
Das Plakat zu den Kultstätten des Comic (hier nur ein winziger Ausschnitt) macht die Verankerung dieser Literaturform in der französischsprachigen Gesellschaft deutlich.
Videokabinen ermöglichen den Einstieg ins Bewegtbild. Schließlich ist der Schritt vom Comic-Tableau zum Film nur ein kleiner.
Künstler wie der belgische Comicautor und Zeichner David Vandermeulen haben längst eine große stilistische Eigenständigkeit entwickelt, die in seinem Fall an verblichene, alte Polaroids erinnert oder an Daguerreotypien. Seine Spezialität: Biographien historischer Persönlichkeiten.
Emmanuel Lepage, dessen „Ein Frühling in Tschernobyl“ vielleicht dem einen oder anderen Leser bekannt sein mag, ist ein anderer aus der unglaublichen Vielzahl französischsprachiger Comicautoren, die uns hier in den Bann ziehen.
Und was uns bei diesem Thema auch auffällt: Kaum ein Gegenwartsthema oder eines aus der nahen französischen Vergangenheit, das nicht in Form der Grafiknovelle bearbeitet wird.
Es wird wohl nicht lange dauern, bis auch dieser Herr in die französische Comic-Kultur Einzug hält…
Kein Wunder, dass sich so mancher Besucher, erschlagen von der Vielfalt des Literaturangebots gefangennehmen lässt und sich eine gemütliche Leseecke sucht.
Und das ganz unabhängig vom Alter. Denn natürlich haben auch die Kleinsten hier ihren Spaß – etwa in den Blätterkuppel, unter denen großformatige Bilderbächer ausliegen, begreifbar wie im Labor durch zwei Öffnungen in der Acrylhaube.
Wie überhaupt Jugendliche und Heranwachsende offenbar hohe Wertschätzung von den Pavillonmachern erfahren. Zwei stillgelegte Skiliftkabinen – sehr nachhaltig! – dienen als Video-Kinos,…
…in denen Jugendliche interaktiv Interviews anwählen können, die (ebenfalls) Jugendliche mit wichtigen Vertretern der französischsprachigen Jugendliteraturszene geführt haben. Das ist ziemlich spannend!
Natürlich kommt auch das geschulte Illustratorenauge nicht zu kurz. Nachdem meine Gattin, selbst Illustratorin, beim Besuch des Pavillons zugegen war, fiel uns die große Kreativität sofort ins Auge, mit der hier alle Buchstaben des Alphabets illustrativ-typografisch umgesetzt wurden, von Könnern ihres Fachs.
Der Buchstabe B mag hier exemplarisch stehen. Ein Fest für die Augen.
Ein Fest, das früher oder später an Konzentration und Kondition zu nagen beginnt. Und uns daran erinnert – naja, es gibt auch noch andere Auslöser – dass es an der Zeit ist, eine Pause einzulegen und etwas zu sich zu nehmen.
Wie gelegen kommt es uns da, dass Frankreich neben der großen literarischen Tradition eine ebenso große kulinarische aufweist. Und sich dessen mehr als bewusst ist. Kein Wunder also, dass dieser Ehrengast-Pavillon derjenige ist, der alle seine Vorgänger übertrifft, was das leibliche Wohl angeht. Von frisch belegten Sandwiches (die wir fälschlicherweise als Baguettes bezeichnen) bis zu Suppen, echtem Boef Bourguignon und allerlei Desserts reicht das Angebot.
Vor- und zubereitet von äußerst alertem jungem Personal. Schnell kommt klassische Bistroatmosphäre auf. Dazu an der Theke des Café Strich Punkt gleich neben dem Literatur Podium ein originaler normannischer Cidre… was will man mehr?
Nun, vielleicht einem Interview lauschen? Beispielsweise mit dieser französischen Literaturkritikerin (?), die sich zu einem Standardwerk der Gegenwarts-Soziologie äußert, nämlich „Resonanz“ von Hartmut Rosa? Warum nicht. Dieser Pavillon bietet viele, viele, auch unerwartete Möglichkeiten.
Während wir langsam zur Ruhe kommen, beobachten wir von unserem günstigen Sitzplatz auf den Bistrostühlen des besagten Cafés, wie die Hochschulstudenten weiter unermüdlich…
…an der typografischen Umsetzung ihrer ausgewählten Literaturzitate werkeln. Irgendwie ein beruhigender Anblick in der allgegenwärtigen Hektik dieser Buchmesse.
Der wir nun wieder für eine kurze Weile hinter uns lassen. Bis morgen, wenn es dann in die nächste Runde geht. wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja dann?
Leicht erschöpft aber guten Mutes freuen wir uns darauf, unsere geneigten Leser auch morgen wieder mit Einblicken in den Messetag zu beliefern. Adieu!
Tags: Asterix, David Vanderleulen, Deutsch-französische Hochschule, Ehrengast Frankreich, Emmanuel Lepage, Frankfurter Buchmesse 2017, Hartmut Rosa, Hochschule für Kunst und Design Saint-Étienne, Literatur Podium, pavillon, Prix Goncourt, Ruedi Baur, Tomi Ungerer
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