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Monohören anno 2009

Veröffentlicht in Gadgets, Kultur, Medien, Musik, Technologie | 20. September 2009 | 15:36:07 | Roland Müller

Mono_Ohr

Also ehrlich, jetzt ticken sie nicht mehr richtig, die digitalen Cafékocher! Ein Artikel über die Freuden des monauralen Musikhörens? Und das im Jahre des Herrn 2009, wo Stereoton fast out ist, MP3 regiert und Dolby Surround Sound ins letzte Wohnzimmer eingezogen ist? Unglaublich! Wer das so sieht, sollte jetzt an dieser Stelle auf ein anderes Blogramm umschalten und etwas Vernünftiges lesen. Wer hingegen neugierig ist, warum unnd wieso – und vor allem mit welchem Equipment – auch und gerade heutzutage das Anhören von alten Monoscheiben aus reinstem Vinyl ein ausgesprochen befriedigendes Erlebnis sein kann, der liest mutig weiter…

Mono_Label

Angefangen hat der lange Weg zur Erkenntnis der audiophilen Qualitäten alter Vinyl-Monoschallplatten mit einem Zufallsfund. Eine fast pressneue Kassette mit den legendären Mozart-Klaviereinspielungen von Walter Gieseking. Erschienen bei EMI. Und dummerweise in Mono. Was tun? Einfach auf den in der Ecke verstaubenden Plattendreher legen und mit dessen Stereosystem hören? Das wäre rein technisch möglich gewesen. Physikalisch gesehen aber großer Blödsinn. Denn die Geometrie und Verrundung der Nadel eines modernen Stereo-Tonabnehmers ist per se nicht dafür gemacht, eine Monorille optimal abzutasten. Insbesondere der wichtige Bassbereich geht dabei völlig unter.

Mono_Vinylreflex

Im Gegensatz zur Stereorille besitzt jene einer Monoplatte immer die exakt gleiche Tiefe und Breite. Die Toninformation ist ausschließlich in der Seitenschrift der Rille enthalten. Sprich: Die Nadel muss ausschließlich die unterschiedliche Links-/Rechts-Auslenkung in der Rille wahrnehmen, während ein Stereo-Tonnabnnehmer auch in der dritten Dimension gefordert wird. Die spitzen, schlanken Stereonadeln „taumeln“ regelrecht durch die breiten, alten Monorillen, produzieren dadurch massenweise Verzerrungen und verschweigen durchaus vorhandene Klanginformationen. Um eine alte Monoscheibe optimal zu hören, braucht man also einen speziellen Mono-Tonabnehmer. Warum man sich das überhaupt antun sollte? Ganz einfach: Noch immer liegen einige der größten musikalischen Schätze in Klassik, Jazz und Pop ausschließlich in Form alter Monoplatten vor. Oft für Spottgeld. Aber nicht immer. Bestes Beispiel hierfür dürfte das unter Sammlern heftig begehrte Sgt.-Pepper’s Album der Beatles sein. Die ursprüngliche Monoversion schlägt die spätere Pseudostereo-Variante qualitativ um Längen und toppt auch aktuelle Remastering-Versionen auf CD.

Mono_System

Wer also alles richtig machen will, sollte so etwas am Tonarm seines hoffentlich noch vorhandenen Plattendrehers befestigt haben. In unserem Falle ein ganz normales Audio Technica System. Und zwar das Modell mit der griffigen Bezeichnung AT-MONO 3/LP.

Mono_ATMONO3

Ein sehr guter Moving-Coil-Tonabnehmer in Monoausführung. Für kleines Geld (ca. 155 US$ direkt aus Japan zu haben. Bezugsquellen liefern wir am Ende dieses ausufernden Artikels. Idealerweise ist dieser Tonabnehmer an einem sehr guten mittelschweren Tonarm befestigt, der sich auf einem ebenfalls sehr guten Direkttriebler befindet. Unsere Wahl – ein wenig exotisch, gewiss – fiel auf einen 1982 gebauten Pioneer PL50-LII. Ein rund 14,5 kg. schwerer Plattendreher der (damals) angehenden Spitzenklasse mit bedämpftem Tonarm, dessen Tonarmrohre dank einens Bajonettanschlusses ausgetauscht werden konnten. Sehr praktisch beim schnellen Tonabnehmerwechsel.

Mono_Pioneer

Ach ja, dieses spezielle Pioneer-Modell wurde leider nie außerhalb Japans angeboten. Aus gutem Grund. Denn selbst heute noch spielt er unserer Ohren nach so ziemich alles in Grund und Boden, was hierzulande in der sogenannten High-End-Klasse mit ihren nach oben offenen Preisen Rang und Namen hat. Ein absoluter Preis-/Leistungs-Geheimtipp! Wenn man weiß, wie und wo man ihn kriegen kann. Natürlich verraten wir unsere Quelle auch hierfür am Ende dieses Artikels. Aber zurück zur Musik…

Mono_Tonarm

Den gedämpften Tonarm auf seiner massiven Alubasis haben wir zusammen mit dem besagten Audio-Technica-System auf die eingangs erwähnten Mozarteinspielungen des begnadeten Herrn Gieseking losgelassen. Der, da er bereits 1956 verstorben ist, keine Gelegenheit mehr hatte, stereophon aufzunehmen. Die späteren Überspielungen auf CD gelten schon als maßstäblich. Aber das alte Mono-Vinyl… WOW! Jede Menge Präsenz, die nicht von einem übereifrigen Toningenieur zu Tode gemastert wurde. Noch mehr Tiefe, auch räumlich (!), ein saftiger, gleichwohl präziser Bass. Das moderne, fast pedallose Spiel Giesekings präsentiert sich auf allerhöchstem Klangniveau.

Mono_RCA

Nun wissen Eingeweihte natürlich, dass insbesondere die frühen fünfziger bis späten sechziger Jahre als die goldene Ära der Plattenpressung galten. Danach ging die Vinylqualität rapide den Bach hinunter. Insofern verblüfft die außergewöhnliche Qualität dieser alten Vinylscheiben nicht. Was hingegen auch für unsere Ohren erstaunlich ist: Die alten Monoaufnahmen vermitteln durchaus eine deutliche Räumlichkeit! Nicht diese manische Punktortung guter stereophoner Aufnahmen, sondern eine etwas diffusere, aber deutliche räumliche Tiefenstaffelung. Erstaunlich.

Mono_PL-Bedienfeld

Es hat also überhaupt nichts mit Nostalgie zu tun, wenn wir eine Scheibe nach der anderen auflegen, um mit wachsender Begeisterung zu hören, wie gut diese vermeintlich überholte Technik damals war. Vorausgesetzt, unser Abhör-Frontend ist dafür ausgerüstet, sie angemessen wiederzugeben. Übrigens: Noch sind alte Monoaufnahmen in gutem Erhaltungszustand für oft lächerliche Beträge bei Ebay, über Kleinanzeigenmärkte oder auf dem Flohmarkt zu ergattern. Ein weites Feld für den Jäger und Sammler… Wer ein solcher werden will – auf die Gefahr hin, wie wir dem Virus des analogen Monohörens zu verfallen – der findet interessante weiterführende Links nun im Anschluss an diesen Artikel. Enjoy!

Nachtrag: Technischerseits ist die Monothematik natürlich noch wesentlich komplizierter, als sie hier dargestellt werden konnte. So haben viele der längst dahingeschiedenen Plattenlabel ihre Platten mit einer eigenen Entzerrungdskennlinie geschnitten. Echte Freaks verwenden deshalb Phonovorverstärker, die diese Kennlinien berücksichtigen – heute wird praktisch alles nach RIAA-Standard entzerrt…

Empfehlenswerte Links für Analog- und Monohörer:

Analogue Audio Association ist die deutsche Anlaufstelle für alles, was mit analogem Musikhören zu tun hat.

Top Class Audio in Hong Kong bietet ein reiches (und teures) Sortiment alter HiFi-Preziosen, über deren Preis man durchaus reden kann. Von hier stammt „unser“ Pioneer.

Hifido in Japan ist eine Website, auf der hochwertiges Vintage HiFi versteigert wird. Wer sucht, findet sogar eine englischsprachige Variante…

Japan Direct Shop liefert unter anderem das erwähnte Audio Technica AT-MONO 3/LP MC-System.

Phonophono hat alles, was das Annaloghörerherz hierzulande begehrt. Und weiht mit diesem PDF in die auch finanziell exotischeren Höhen des Monohörens ein.

Bei JE Labs findet sich eine sehr skurrile, technisch geprägte Zweitreise durch die monaurale HiFi-Ära.

recordsale gilt derzeit als Deutschlands führender Anbieter von Gebrauchtplatten.

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Eine Antwort zu “Monohören anno 2009”

  1. 06. Juni 2010 um 10:50:49 | Ingo sagt:

    Hallo Monohörer

    Höre eben eine T-Bone Walker Scheibe, ein Reissue, ursprünglich Mono. Meine Erfahrung ist, das viele ursprünglich monophon aufgenommene Platten, als Stereo Wiederveröffentlichung unter dem Monotonabnehmer AT-MONO 3/LP den Du auch erwähnst, stimmiger klingen.