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Ausgerechnet am Tag des Grundgesetzes

Veröffentlicht in Gesellschaft, Klimakrise, Politik | 24. Mai 2023 | 15:56:57 | Roland Müller

Ist das noch ein Rechtsstaat? Ich komme langsam ins Grübeln …

Eigentlich wollte ich zum heutigen Tag des Grundgesetzes ein paar wohlgesetzte Worte posten zu den Grundvätern und Grundmüttern der Republik und zu den Verfasser:innen des Grundgesetzes. Und das im Kontext der 1848er Revolution und jener Menschen, die sich damals vor und in der Frankfurter Paulskirche versammelt hatten, um von den deutschen Fürsten Freiheit und Bürgerrechte einzufordern.

Stattdessen sitze ich nun hier und versuche zu verarbeiten, was da heute geschehen ist. Razzien bei Mitgliedern der Letzten Generation im Stile dessen, was ich noch aus Zeiten der Rote Armee Fraktion (RAF) erinnere. Ausgelöst in seltener Eintracht von der demnächst in Hessen wahlkämpfenden Innenministerin Nancy Faeser (SPD!) und dem bayerischen wahlkämpfenden Minsiterpräsidenten Markus Söder bzw. der Generalstaatsanwaltschaft München und dem Bayerischen LKA. Geht’s noch? Vielleicht noch eine Nummer größer? SEK-Einsätze zum Beispiel?

Ich gehe davon aus, dass diese Aktion formaljuristisch in Ordnung ist, ich hoffe das wirklich, weil sonst … Egal, mir erscheint es offensichtlich, dass da gerade etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Ist es tatsächlich verhältnismäßig? Oder ahne ich da die harte Faust eines Rechtsstaates, der bei einer ganz besonderen Zielgruppe Angst verbreiten möchte, bei Jugendlichen nämlich, die nur noch eine einzige Angst verspüren, die vor der heraufdämmernden und vermutlich nicht mehr aufzuhaltenden Klimakatastrophe. Mein Gott, wie will man dieser Generation überhaupt Angst machen? Möglicherweise – ich stelle das mal als Hypothese in den Raum – war die heutige Aktion ein kapitaler innenpolitischer Fehler, der zeitnah das hervorrufen wird, was später in den Geschichtsbüchern als „Klimaterrorismus“ beschrieben werden wird. Und ich rede da nicht von verzweifelten Jugendlichen und sonstigen Klimaaktivisten, die sich auf den Asphalt einer Durchgangsstraße kleben …

Ich hätte mir mehr Augenmaß gewünscht und weniger Law and Order. Vergleichbares Durchgreifen in der immer aggressiveren rechten Szene. Und ein wenig mehr Respekt vor der Idee des Grundgesetzes. Gerade an einem Tag wie heute.

© Screenshot: Roland Mueller

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Ein Nachruf am Welttag des Buches

Veröffentlicht in Arktis, Gesellschaft, Klimakrise, Literatur, Medien, Politik | 23. April 2023 | 10:09:24 | Roland Müller

Birgit Lutz: "Nachruf auf die Arktis", btb Verlag 2022 (Verlagsgruppe Random House)

Klar, heute ist der 23. April 2023, der Welttag des Buches. Also Anlass, ganz generell über das Schreiben, das Lesen und die wunderbare Welt der Bücher zu schwadronieren. Das tun heute aber schon andere Blogger. Ich möchte stattdessen die Gelegenheit nutzen, hier ein Buch vorzustellen, das über diesen Tag hinaus zur Pflichtlektüre gehören sollte. Für jedermann und jederfrau in unserem westlichen Kulturkreis. Die Autorin Birgit Lutz, Journalistin und Expeditionsleiterin mit mehr Arktiserfahrung als ich sie je ansammeln werde, ist mit Nachruf auf die Arktis etwas gelungen, was mir bisher unmöglich schien – Eine umfassende Beschreibung aller Aspekte der Klimakrise, wie sie sich im arktischen Raum darstellt, eingebettet in eine Spitzbergen-Tour und angereichert mit Beobachtungen, Einschätzungen und Informationen führender Wissenschaftler. Dies reicht von den klimatologischen und glaziologischen Tatsachen über ökonomische Effekte bis zur psychologischen und philosophischen Einordnung der Geschehnisse.

Nach 246 von 490 Seiten, die ich in den wenigen Tagen seit Erwerb gelesen, nein verschlungen habe, kann ich nur meinen Hut ziehen. Birgit Lutz, der man die persönliche, tief emotionale Betroffenheit anmerkt, die das dramatische Siechtum der Arktis in ihr auslöst, versucht mitunter verzweifelt, sich und uns zu vermitteln, dass doch noch etwas zu retten sei. Obgleich die wissenschaftlichen Fakten anzeigen, dass wir gerade von einem Kipppunkt zum nächsten schlittern. Etwas, das Wissenschaftlern, mit denen Lutz spricht, die Tränen in die Augen treibt. Tränen der Ohnmacht, des Verzweifelns an der Ignoranz der medialen Öffentlichkeit, ja der Medien insgesamt. Noch können wir die Welt retten, so lautet die Unterzeile des Titels. Können wir das tatsächlich? Und vor allem: Wollen wir es? Oder sind die psychologischen Verdrängungsmechanismen längst so weit gediehen, dass wir bis zuletzt wegschauen werden? Je mehr ich in diesem Buch versinke, um so mehr Verständnis wächst in mir für die Letzte Generation und ihre Verzweiflung über die immer noch rein wirtschaftspolitisch und lobbyfreundlich agierende Politik hierzulande und weltweit. Trotzdem ist Nachruf auf die Arktis ein Buch, das Mut machen soll und kann. Noch ist Zeit, das Ruder herumzureißen. Hart backbord oder hart steuerbord, ganz egal.

Mich selbst bestärkt die Lektüre darin, weiter und noch mehr als zuvor, auf meinen ökologischen Fußabdruck zu achten. Es bestärkt mich außerdem darin, meine eigenen Buchprojekte voranzutreiben – mein erster von mehreren in der Arktis spielenden Umwelt-Thrillern erscheint im Frühjahr 2024 im Aufbau Verlag, Berlin. Und nicht zuletzt bestärkt es mich darin, politisches Handeln, wirtschaftliche Interessen und die oft unheilige Verflechtung von beidem noch stärker zu hinterfragen als ich es bisher schon tat.

Meine abschließende Einschätzung zu Nachruf auf die Arktis kann also nur lauten: sechs Sterne von fünf möglichen …

© Foto: Roland Müller

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