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Frankfurt Buchmesse 2014 (4): Kommerz vs. Substanz

Veröffentlicht in Kultur, Kunst, Literatur | 12. Oktober 2014 | 22:38:09 | Roland Müller

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Kunst oder Kommerz? Oder Kunst und Kommerz? Diese Frage stellt sich alle Jahre wieder anlässlich der Buchmesse. Beides existiert mit- und nebeneinander, beides hat seine eigene Berechtigung. Ohne einen vernünftigen, tragfähigen kommerziellen Ansatz vermögen weder Verlage noch Buchhändler zu überleben. Aber gerade vor diesem Hintergrund ist es um so wichtiger, die gängigen Konzepte und Geschäftsmodelle zu hinterfragen und Ausschau zu halten nach Neuem. Diesseits und jenseits von Selfpublishing und Books on Demand. Dies wollen wir an diesem letzten Messetag tun – verbunden natürlich mit vielen weiteren Lesetipps und abgeschlossen durch so etwas wie ein vorläufiges Fazit…

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„So liest man heute“ – lesen wir auf einem überdimensionalen Plakat der Verlagsgruppe Droemer Knaur. Und erwarten ein neues, spannendes Geschäftsmodell hinter diesem selbstbewussten Anspruch. Nur um enttäuscht zu werden. Nein, es handelt sich schlicht um längst Dagewesenes und eine offensive Ausrichtung am Massenmarkt. Kann es sein, das das Verlagswesen eine der konservativsten Branchen hierzulande ist?

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Nun gut, BoD – Books on Demand – ist auch keine wirkliche Zauberformel mehr, sondern allenfalls die Adaption des aus der Industrie bekannten kostensenkenden „Just-in-time Prinzips , keine Lagerhaltung zu betreiben. Insofern ist uns von den vielen Varianten dieses Konzepts eigentlich nur eine einzige, weitergehende Idee aufgefallen. Und die hatte ausgerechnet ein sehr kleiner und offenbar noch sehr neuer Verlag…

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Der kladde buchverlag, Manufaktur für Satz und Wort, präsentierte auf der Buchmesse auf einer Handvoll Charts seine Vorstellung der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen Verlagen, Autoren und Lesern. Basierend auf dem Dreiklang von Crowdpublishing,…

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Fairpublishing und…

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…Lifestylepublishing ist die Verlagsmannschaft nach eigener Aussag angetreten, „die Revolution des Buchmarkts voranzutreiben“. Ein hoher Anspruch, vorgetragen mit der Unbekümmertheit der Jugend, aber immerhin eine klare Ansage. Wir werden gerne verfolgen, ob die Kolleginnen und Kollegen sich in der Lage zeigen, ihren Anspruch in die Tat umzusetzen. Auch wenn wir gewisse Bedenken hegen, was wohl dabei herauskommen mag, wenn man die Steuerung eines Verlags-Portfolios ausschließlich der lesenden Allgemeinheit überlässt.

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Damit begeben wir uns wieder zurück in die brodelnde Messewelt, wo allerlei Marketinggags versuchen, die Aufmerksamkeit des Fachpublikums auf das jeweilige Verlagsobjekt zu lenken. Besonders einfallsreich hierbei wieder einmal Kein und Aber, die einen Londoner Doppeldeckerbus in ihren Messestand integriert haben, um David Nicholls „Drei auf Reisen“ in Szene zu setzen. Immerhin der derzeitige Vorzeigeautor des Verlages. Bemerkung am Rande: In einem solchen Bus lief dann auch die abendliche Kein und Aber Party nach Messeschluss – kreuz und quer durch die verregnete Frankfurter Innenstadt.

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Unweit davon stolpern wir dann endlich wieder über einen handfesten Lesetipp. Diesmal von einem unserer Lieblingsautoren: Eckhard Henscheid plädiert in seinem neuen, bei Piper erschienenen Buch „Dostojewskis Gelächter“ für eine ganz neue Wahrnehmung des vielleicht russischsten aller russischen Klassiker. Und hoppla, er tritt für Fjodor Michailowitschs überbordenden Humor sogar den Beweis an. Eine unbedingt lesenswerte Streitschrift für einen gefühlt ganz neuen Dostojewski. Lesetipp!

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Vorbei an Kisten voller Kerkeling – ganz neu natürlich und mittlerweile erkennbar gereift – setzen wir unsere Entdeckungsreise fort.

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Durchaus beeindruckend Nino Haratischwilis Versuch, auf gut 1200 Seiten das Leben und den Weg einer georgischen Familie durchs 20. Jahrhundert zu dokumentieren. „Das achte Leben“ ist ein schwergewichtiges Buch, das eigentlich nur eines vermissen lässt – wie wohl auch die ZEIT bemerkt – mehr Mut zur Einbindung des zeitgeschichtlichen Kontextes. Aber vielleicht lässt sich Geschichte im langen Schatten Stalins auch nur schwer so integrieren, dass sie persönlich berührt.

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Immerhin ist ihr eine dramatische und sprachgewaltige Darstellung eines georgischen Familienschicksals auf einer sehr persönlichen Ebene gelungen und ein wenn auch etwas distanzierterer Einblick in das Leiden seiner Zeit. Wir treffen Nino am Stand der Frankfurter Verlagsanstalt, die das Epos verlegt. Eine beeindruckende Frau. Ein beachtliches Buch, das eines nicht tut: langweilen! Insofern fast ein Lesetipp.

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Vorbei an allerlei kleinen Installationen, die uns permanent daran erinnern, dass Papier, dieses wunderbare, verheißungsvoll raschelnde Naturmaterial einmal das allein seligmachende Medium gedruckter Gedanken war, stoppen wir kurz an einem Klassiker aus Jugendtagen…

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Karl May, längst tot, aber irgendwie dann doch unsterblich, bringt qua seines Verlags einen 90. Band unter die Leserschaft. Der letzte, noch unveröffentlichte Prosatext aus der Hinterlassenschaft des fantasievollen Nichtreiseschriftstellers mit dem Titel „Verschwörung in Wien“ entführt uns gleichwohl ins finstere Erzgebirge. Es mag Gründe geben, warum Karl May zu Lebzeiten diese Geschichte nicht veröffentlichte. Die Nachlasswalter ignorieren diese allemal.

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Nach soviel staubiger Vergangenheit zieht es uns an den Stand des sbvv – des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes. Und ganz im Gegensatz zum eidgenössischen Klischee erwartet uns dort eine feiernde Menge in Champagnerlaune. keine Ahnung, was es da zu feiern gab, aber wir haben uns dem Treiben natürlich gerne angeschlossen und dabei völlig vergessen, einen Blick auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises zu werfen.

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Kommerz vs. Substanz heißt ja das Motto unseres heutigen Berichts. Dass sich beides auf das Allerfeinste verbinden lässt, ist David Wagner hier zwar nicht ins Gesicht geschrieben, eher schon seinem Ostberliner Autorenkollegen…

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Jochen Schmidt. Dem beider Werk „Drüben und Drüben“ zwei deutsche Kindheiten spiegelt, beide gelebt und erlebt aus der westdeutschen (David Wagner) und aus der ostdeutschen (Jochen Schmidt) Perspektive. Ein Wendebuch im allerbesten Sinne, zumal auch das doppelte Cover auf Vorder- und Rückseite (dort spiegelbildlich) diesen Aspekt betont sowie die Gleichwertigkeit beider Literaten.

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Unspektakulär wie die Realität fern der Medien, jedoch präzise und detailfreudig mit Blick fürs beiderseits Kleinteilige lesen wir, was wir vielleicht schon 1989 hätten lesen wollen: wie ähnlich wir uns doch eigentlich waren. Ein gutes Buch, vom Rowohlt Verlag bestens getimt, das gewiss seine Leser finden wird. Denn die Zielgruppe, das sind wir eigentlich alle.

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Wollten wir von der westöstlichen Vereinigungsthematik halbwegs elegant die Kurve kriegen zu diesem Herrn, dann böte es sich an, darauf herumzureiten, was neben der allzumenschlichen Begierden nach Freiheit einen, den anderen massiven Anreiz bildete, sich gen Westen aufzumachen. Der Kapitalismus. Ein unschönes Wort, ich weiß, aber doch so viel mehr als die viel zitierte Wendebanane. Thomas Piketty ist völlig zurecht einer der derzeit meistdiskutierten Autoren des weitgehend kapitalistischen Planeten Erde. Beredt wie hier am Stand des Vorwärts Verlages darf man ihm ohne Übertreibung zugestehen, das vielleicht wichtigste Buch zum dominierenden ökonomischen und gesellschaftlichen System geschrieben zu haben seit Karl Marx. Der französische Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Sorbonne…

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…legt mit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ bei C.H. Beck eine so brillante wie illusionslose Analyse dessen vor, was wir als kapitalistisches System erleben. Fundiert mit Daten, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, statistisch und wissenschaftlich belegt weist er einerseits nach, dass der real existierende Kapitalismus zwar die apokalyptische Ungleichheit abgewendet hat, die Marx noch prophezeite, wir aber dafür einen hohen Preis zahlen, indem die Werte der Demokratie mehr und mehr ausgehöhlt werden. Ein hoch notwendiges Buch, dass Diskussionen auslösen wird und muss und hoffentlich von unseren politischen Handlungsträgern gelesen wird. Von uns auch gerne als Hörbuch auf dem Weg ins Parlament. Pflichtlektüre und Lesetipp in einem!

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Und wenn wir schon bei weitsichtiger Lektüre sind, sollte auch Jaron Laniers „Wem gehört die Zukunft?“ genannt werden, verlegt bei Hoffmann und Campe. Der Internet-Pionier und Big Data Warner, gerade in der Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, weiß wovon er spricht. Und vermutlich auch, dass er für weite Teile des Internetvolkes einsamer Mahner in der Wüste bleibt. Dass er trotzdem die Stimme erhebt, Nerd der er ist und eine „neue Art von Humansimus“ einfordert, spricht für ihn, aber eben leider nicht für uns, die wir immer noch blind und taub unter der Datenabsaugglocke hängen. Gerade deswegen ein Lesetipp!

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Nachdem uns eingedenk dieses Themas eh schon der Kamm geschwollen ist, entdecken wir im Vorbeigehen einen flüssigen Grund für weiteres Anschwellen desselben. Was hat Plettenberg auf der Buchmesse verloren. Plettenberg? Nein, das ist kein Sachbuchverlag. Sondern ein unter Reichsgraf von Plettenberg firmierender Weinhersteller – wir vermeiden das Wort Winzer weil entscheiden zu beschönigend – der mit hard core Werbung seine Produkte in den Markt drückt. Vom nervigen Telefonmarketing bis hin zu höchst bedenklichen Aussendungen. Nicht nur unseres Erachtens ist manches davon tief in der Grauzone des Zumutbaren angesiedelt. Loriots legendäres „Abgezapft und originalverkorkt von Pallhuber und Söhne“ kommt einem da wie eine liebenswürdige Beschönigung der Realität vor.

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Zurück zu etwas Angenehmerem. Stephanie Bart, hier im FAZ Buchmessegespräch, hat mit „Deutscher Meister“ bei Hoffmann und Campe ein fabelhaftes Buch vorgelegt, das eindrücklich erzählt, wie tief das nationalsozialistische System in das Alltagsleben eingriff und doch ausgerechnet an einem Boxer scheiterte. Ihr biographischer Roman über den hochtalentierten und charismatischen Sinto Boxer Johann Wilhelm „Rukelie“ Trollmann ist lesenswert, weil plastisch und exemplarisch. Aber auch recht schwere Kost, weil er in weiten Teilen sehr, sehr nüchtern daherkommt, auch und gerade dort, wo mehr Leidenschaft angebracht gewesen wäre. Nun ja, Stephanie Bart hat Ethnologie studiert (wie ich auch, u.a.)…

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So langsam werden uns nun die Füße schwer und das Bedürfnis nach leichterer, vielleicht Krimi-Kost, steigt empor. Was für ein Glück, dass wir Bernhard Aichner treffen. Der leicht gratelige Österreicher hat mit „Totenfrau“ einen wunderbaren Kriminalroman geschrieben, kreativ, spannend, voller überraschender Wendungen, die den Leser oft atemlos zurücklassen. Herrliche Zug- oder Bettlektüre und ein Lesetipp für jeden Krimifan!

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Ob Victor Staudt mit „Die Geschichte meines Selbstmords“ ein wirklicher Lesetipp ist, ist nicht ganz so leicht zu beurteilen. Zumal unter dem fetten Titel die eigentliche Botschaft der Unterzeile fast verschwindet: „…und wie ich das Leben wiederfand“. Zumindest eines kann man aus den Schilderungen des Niederländers, der schlussendlich dann doch seinen fehldiagnostizierten Depressionen zu entkommen vermochte, lernen: sich nicht auf die Schlussfolgerungen eines Arztes zu verlassen, ohne weitere Meinungen einzuholen und außerdem noch, dass unsere durchbürokratisierte Gesellschaft allergrößte Schwierigkeiten hat, respektvoll mit Menschen umzugehen, die aus welchem Grund auch immer aus ihrem Leben scheiden wollen.

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Passt es da nicht wunderbar, einen schnellen Blick auf all jene zu werfen, die ihre liebes Leben lang versuchen, den Sinn ihres Seins in der Esoterik-Ecke ihrer Buchhandlung zu entdecken? Rainbowman Reinhard Stengel ist einer von unsäglich vielen lieben spirituell aktiven Menschen, die mit Schaman- und allerlei anderem -ismus eine vorwiegend weibliche Leserschaft entzücken. Nicht, dass wir ihm dies vorwerfen können, er ist zutiefst von seiner Begabung überzeugt, ein heiterer und sehr unterhaltsamer Mann. Nicht von ungefähr sind die laufenden Regalmeter dieses Buchsegments beachtlich und margenträchtig. Es sei ihm also von Herzen gegönnt. Ob aber die Frankfurter Buchmesse der geeignete Ort für „seelenschamanische Energiearbeit“ ist…?

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Kommen wir zum Ende und zu einer besonders erfreulichen Begegnung. Wir hatten das Glück, am Stand von deutschlandradio Denis Scheck zu entdecken und anzusprechen. Spätestens seit „Druckfrisch“ TV-bekannt durch seine äußerst eloquente und unterhaltsame Art Autoren zu befragen und Bücher zu verreißen. Polemik vom Allerfeinsten, eine geschliffene Sprache, all das ist geeignet, Buchkultur am Leben zu erhalten und Interessierten zugänglich zu machen. Mag sein, dass ihm unsere Art des subjektiven Messerundgangs gefällt – weil sie unterhält? – mag sein, dass nicht. Darauf angesprochen haben wir ihn jedenfalls. Wobei er offenbarte, sich eher auf der analogen Seite des Lebens zu bewegen. Wie weise. Aber nennen wir unser Magazin nicht „Magazin für analogen Lifestyle und digitalen Workstyle“? LOL. Wie auch immer, er gehört zu den wenigen Kritikern, der Post-RR-Ära, denen zuzuhören Genuss bereitet.

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So auch diesmal, als er in er in der Wir-ziehen-ein-Buchmesse-Fazit Runde die Chuzpe hatte, angesprochen auf einen Vergleich zwischen dem Hauptwerk „La Place de l’Etoile“ des frisch gekürten Literatur-Nobelpreisträgers Patrick Modiano und Siegfried Lenz‘ „Deutschstunde“ – beide im Jahr 1968 entstanden – zu konstatieren, dass Lenz sprachlich bieder und verstaubt wirke. Eine mutige Polemik wenige Tage nach Lenz‘ Abgang ins Walhall deutscher Dichtkunst. Aber jeder, der im Deutschunterricht „Die Deutschstunde“ lesen musste, wird es nachvollziehen können. Und waren die Jahre vor 1968 nicht ganz genau so? Deshalb Chapeau! Herr Scheck.

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Womit wir nun wirklich am Ende sind. Und was bleibt nun, während wir die endlosen Rolltreppen nach unten fahren? Nun, zumindest das: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“

In diesem Sinne allen, die das Durchhaltevermögen hatten, uns ein paar Tage lang durch Labyrinth der 66. Frankfurter Buchmesse zu folgen, eine schöne Zeit – und das kann nur eine sein mit guten Büchern!

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