Kamera
Schokolade

89 Minuten Achterbahnfahrt

Veröffentlicht in Apple & Co, Kultur, Kunst, Medien | 01. Juli 2009 | 16:35:41 | Roland Müller

Normalerweise verkneifen wir uns hier Kinotipps. Dafür flimmert einfach zuviel Hollywood-Mainstream über die deutschen Kinoleinwände. Doch diesmal machen wir eine Ausnahme und empfehlen dem werten, nervenstarken Publikum 89 Minuten Achterbahnfahrt…

Peter Dörflers Kinofilm ACHTERBAHN startet morgen, am 2. Juli, bundesweit in ausgewählten Filmpalästen. Er erzählt die Geschichte des einst millionenschweren Schaustellers Norbert Witte (Foto) und dokumentiert den Absturz seiner Familie in einen Abgrund von Insolvenz, Armut und schlussendlich Kriminalität. Keine Fiktion. Kein Plot, der irgendeinem Autorenhirn entsprungen ist, sondern einer, den das Leben schrieb – mit der ihm eigenen Gnadenlosigkeit. Diese Authentizität ist es dann auch, die den Film so sehenswert macht.

Auch und gerade weil die sehr nah an den Wittes und ihrem Alltagsleben gefilmten Szenen eine gewisse, mitunter fast naiv anmutende Sympathie mit dem Schicksal der Protagonisten erkennen lassen, Mitgefühl eben, geht die Geschichte als solche mächtig unter die Haut. Speziell dort, wo die Kamera Mutter und Tochter in den berüchtigten Knast von Lima folgt, in dem der Sohn unter Bedingungen einsitzt, die für unsereinen nur schwer vorstellbar sind – zu 20 Jahren Haft wegen Drogenschmuggels verurteilt. Das verzweifelte Ringen der Familie um die Revision seines Falls, immer auf dem schmalen Grad zwischen Hoffen und Bangen, aber auch die Distanz des Vaters, der das Ganze selbst verschuldet und das relative Glück hat, in Berlin Plötzensee vergleichsweise luxuriös einzusitzen, mit Freigang und Job, all das lässt niemanden unbeteiligt.

Irgendwo steht dieser Dokumentarfilm, der in weiten Teilen fesselnder ist als die oft merkwürdig blutleer hinkonstruierten Plots à la Tatort, exemplarisch für das, was derzeit unter dem Einfluss der Finanzkrise in vielen ganz normalen Familien regiert: die nackte Angst um den eigenen Lebensstandard, um die eigene wirtschaftliche Existenz. Dass der „normale“ Absturz in die Armut hierzulande etwas weniger dramatisch (aber immer noch dramatisch genug!) ausfällt, ist da nur ein schwacher Trost. Als ganz besonders ambivalent haben wir es beim Ansehen des Films empfunden, dass uns ausgerechnet der krampfhaft verbreitete Optimismus des straffälligen Schausteller-Königs Norbert Witte Respekt abnötigt, wenn nicht gar Sympathie. Sein Wille, wieder auf die Beine zu kommen, nachdem er so ziemlich alles verpatzt hat, was einer nur verpatzen kann: gescheitert mit seinem Traum, den Berliner Spreepark zum größten Freizeitpark Deutschlands zu machen, nach zehn Jahren trotz staatlicher Gelder pleite gegangen, Berlin auf seinen Schulden sitzengelassen und mit der Familie nach Peru geflohen, dort schließlich ebenfalls gescheitert und ins Drogengeschäft geraten, Festnahme, sein Sohn in Peru, er in Deutschland…

Kurz und gut: Dieser Film verdient eine dicke Empfehlung der Redaktion!

ACHTERBAHN, Kinostart 1m 2. Juli 2009, Buch, Regie und Kamera Peter Dörfler, eine Koproduktion von ROHFILM und STRANDFILM mit dem ZDF, in Zusammenarbeit mit ARTE.

(©Screenshots: ROHFILM/STRANDFILM)

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