Kein Carneval. Kein Samba. Kein Futebol. Stattdessen Luiz Ruffato und Ana Paula Maia, Joào Paulo Cuenca, Patricia Melo und Paulo Scott, Andréa del Fuego und Chico Buarque, Daniel Galera und Bernardo Carvalho. Das zeitgenössische Brasilien präsentiert sich hier in Frankfurt in erfrischender Weise klischeefrei und mit rund siebzig seiner aktuellen AutorInnen. Darunter eine erfreulich große Zahl junger, neuer Schriftsteller. Zeit, die neuen, jungen Stimmen (stimmt, Paulo Scott ist eher Alte Garde) zu Wort kommen zu lassen – sie und ihr oft brutal ungeschminktes Bild des heutigen Brasilien…
Während wir uns also auf den Weg machen Richtung brasilianischem Pavillon und dabei das hr3-Team nebst Dieter „Max“ Moor von ttt rechts unter uns im Dunst ihrer Zigarettenpause liegen lassen, machen wir uns so unsere Gedanken zum wirtschaftlichen und literarischen Schwellenland Brasilien. Literarisches Schwellenland? Ja, durchaus, denn gerade in den letzten Jahren ist auch in der Literaturszene Brasiliens einiges in Bewegung geraten.
„Brasilien – ein Land voller Stimmen“, so lautet das Motto, unter dem der erwachende Riese auf der Buchmesse auf sich aufmerksam machen will. Musikalische, lyrische und erzählerische Kreativität, oft genug getrieben durch die unmittelbare Erfahrung des Molochs Sao Paulo oder der Millionenmetropole Rio de Janeiro, malt ein fesselndes, durchaus auch düsteres, zugleich aber auch verblüffend heiteres Bild des größten Schmelztiegels Südamerikas. Wieviel Ambivalenz da im Spiel sein mag, lässt sich daran erkennen, dass Brasiliens Vizepräsident Michel Temer bei den Eröffnungsfeierlichkeiten deutliche Buhrufe anwesender Brasilianer zu hören bekam, nicht unbedingt nur, weil er sich bemüßigt fühlte, auf seinen eigenen Gedichtband hinzuweisen.Es ist und bleibt ein Land harter Kontraste – siehe die aktuelle innenpolitische Auseinandersetzung im Umfeld der Fußball-WM. Und wer anders als die Literaten des Landes vermag dies zu verarbeiten?
Am Counter des Brasilien-Pavillons angekommen sind wir gespannt, wie der von Daniela Thomas und Felipe Tessara entworfene Raum die soziokulturelle Vielfalt des Landes wohl darstellen wird. 2.500 Quadratmeter sind eine Menge Platz, um einen nachhaltigen Eindruck zu vermitteln. Wir erinnern uns an Neuseeland im Vorjahr, davor Island…
Wir entdecken Licht am Ende des Tunnels und treten ein…
Als erstes empfängt uns der schon durch die Medien gegeisterte feuerfeste Karton, der zu imposanten Wällen und Wänden aufgetürmt, eigentlich zusammengesteckt worden ist wie ein Kinderbaukasten.
Wenige Meter weiter und zur Linken gewandt treffen wir auf einen Wald von Papiersäulen, eine jede davon als Abrissblock eines für die brasilianische Literatur bedeutenden Schriftstellers konzipiert. Die Blätter tragen den Namen der wichtigsten literarischen Figur des jeweiligen Autors, verbunden mit einer zeitgenössischen Darstellung und dreisprachigen Beschreibungen von Figur, Werk und Autor. Eine wirklich kreative Werkschau, von der die Besucher fleißig Gebrauch machen.
Natürlich auch wir. Ein spannender erster Kontakt mit einigen großen Namen: Milton Hatoum „Zwei Brüder“, Dyonélio Machado „Os Ratos“, Jorge Amado „Dona Flor und ihre zwei Ehemänner“, Lygia Fagundes Telles „Mädchen am blauen Fenster“, Monteiro Lombato „Die kleine Farm zum gelben Specht“, Rubem Fonseca „Mandrake – die Bibel und der Gehstock“, Dalton Trevisan „O Vampiro de Curitiba“, Luis Fernando Verissimo „Der Seelenarzt aus Bagé“, Raduan Nassar „Das Brot des Patriarchen“, Chico Buarque „Budapest“ und viele, viele andere, die es verdient hätten, hier genannt zu werden. Tolle Idee jedenfalls, mit diesen überdimensionalen Abreißblöcken uns unbedarften Mitteleuropäern den Einstieg ins brasilianische Universum leicht zu machen. „Anfüttern“ nennt man das wohl…
Fehlt nur noch die literarische Siesta in der Hängematte. Die es natürlich ebenfalls gibt, zahlreich zumal, aufgehängt an merkwürdig nackten Totempfählen, die wie entrindete Amazonasbäume schwach und fern Assoziationen zum Raubbau an Amazoniens Regenwälder auslösen.
Immerhin, speziell das anwesende Jungvolk genießt es, sich in die schwankenden Tuchbahnen zu fläzen, Seele und manchmal auch Beine baumeln zu lassen und sich per Kopfhörer brasilianischer Prosa auszusetzen, die in deutscher Übersetzung zugleich auf einen Monitor oberhalb der Hängematte eingespielt wird.
Ein paar Schritte weiter ist ein Auditorium abgetrennt, in dem täglich Lesungen stattfinden. Zweisprachig, soll heißen: Der Autor liest eine Passage auf Portugiesisch vor, die der Übersetzer anschließend auf Deutsch wiedergibt. Apropos: Portugiesisch ist – zumindest das kann man hören – eine zwar kantige und rauchige Sprache, aber mit angemessener Intonation irgendwie sehr poetisch.
Wem nach dieser konzentrierten Hörarbeit ermattet ist oder zumindest ein wenig entspannen möchte, bedient sich einer Raumninstallation von Heleno Bernardi namens „Enquanto falo, as horas passam“ („Während ich spreche, vergehen die Stunden“), bestehend aus Matratzen in Form von Menschen in embryonaler Haltung. Vielleicht weil wir, versunken ins Lesen, den Weg zurück suchen in die feuchte Wärme unserer ersten neun Lebensmonate?
Ich bin zwar nicht ganz sicher, ob die Benutzer und Besetzer dieser künstlerischen Installation sich dessen bewusst sind, aber immerhin sind die Embryotratzen ausgesprochen bequem.
Wer sich dann gestärkt erhebt nach behaglichem Schmökern in den überall präsentierten Büchern, kann hinüber schlendern zu einer erradelbaren Videoinstallation, die Passanten ermuntert, in die Pedale zu treten und sich so Aspekte brasilianischer Kultur, Landschaft, Lebensgefühls auf den Monitor zu zaubern. Eine sehr energiebewusste Art, fernzusehen…
Wir verlassen den Brasilien-Pavillon und gehen zurück in die heiligen und ach so kommerziellen Messehallen. Dort treffen wir am Stand von Deutschlandradio die Literaturagentin Michi Strausfeld. Was thematisch überaus passend ist. Denn Michi Strausfeld, geboren 1945 in Recklingshausen, ist ausgewiesene Hispanistin, Anglistin, Romanistin, promovierte über Gabriel García Márquez und den neuen Roman Lateinamerikas. Sie war bis 2008 bei Suhrkamp für deren spanisch- und portugiesischsprachigen Autorenauswahl zuständig, lebt in Berlin und Barcelona und wurde von der Buchmesse Buenos Aires auf die Liste der 50 wichtigsten Personen für die spanischsprachigen Kulturwelt aufgenommen. Eine Person also, deren Einschätzung der brasilianischen Literatur man ernstnehmen darf.
Angeregt von Frau Strausfelds Ausführungen stolpern wir geradezu über eine der Apologetinnen der neuen brasilianischen Literatur – Andréa del Fuego, deren bei Hanser verlegter Debütroman „Geschwister des Wassers“ von einer geradezu magisch-poetischen Sprache durchdrungen ist. Unser üblicher Anlesetest – erste Seite, eine beliebige Innenseite, letzte Seite – bestätigt es: das ist unser vierter Lesetipp!
Während Andréa del Fuego zu Recht auf allen möglichen Ständen herumgereicht und interviewt wird, liegt dies Bernardo Kucinski eher weniger. Der Journalist und selbst betroffene Stimme jener Brasilianer, die zu Zeiten der Militärdiktatur Angehörige verloren, plötzlich und ohne Vorwarnung, um nie wieder etwas über ihren Verbleib zu hören, dieser Bernardo Kucinski entpuppt sich als sehr zurückhaltender, vergleichsweise schweigsamer Zeitgenosse, der gleichwohl sein Schreiben für sich sprechen lässt: Mit dem Roman „K. oder die verschwundene Tochter“ hat er ein eindrückliches Porträt der desaparecidos, der Verschleppten zu Papier gebracht, über die Suche seines Vaters nach seiner Schwester. Erschütternd und exemplarisch zugleich für das Schicksal tausender Brasilianer in den 21 Jahren Diktatur.
Und wenn wir nun schon mal dabei sind, in die brasilianische Gegenwartsliteratur abzutauchen, dann müssen da noch einige weitere Namen genannt werden. zum Beispiel Daniel Galera, dessen bei Suhrkamp erschienener Roman „Flut“ ohne Zweifel zu den großen Würfen zu zählen ist, ein sehr verinnerlichter Entwicklungsroman, den ich im Gegensatz zur hier verlinkten Spiegelrezension nicht als „Männerroman“ bezeichnen würde. So oder so ist das unser fünfter Lesetipp!
Etwas früher entstanden, aber ebenfalls großes Kopfkino ist Milton Hatoums „Zwei Brüder“, hierzulande erschienen bei Suhrkamp. Was diesen Roman auszeichnet, ist zum einen die Tatsache, dass sich der Erzähler erst im Verlauf der Geschichte zu erkennen gibt als Sohn eines der beiden (doch welchen!) Brüder und so fesselnd wie mehrdeutig Grundelemente der brasilianischen Gesellschaft beschreibt: die Gewalt innerhalb enger Verwandtschaft und die raubtierhaften Formen des wirtschaftlichen Aufstiegs – vor dem Hintergrund einer langsam verfallenden Stadt Manaus und den politischen Spannungen des 20. Jahrhunderts. Unser Lesetipp Nummer sechs!
Bei unserem Lieblingsverlag Wagenbach finden wir ein dünnes Bändchen, das alles mitbringt, um als unser siebter Lesetipp durchzugehen: Patricia Melos „Wer lügt gewinnt“ Übrigens: Ihr neuester Krimi „Leichendieb“ ist ebenfalls nicht zu verachten…
Und nachdem wir eh schon mal bei Wagenbach sind: Auch Paulo Scotts „Unwirkliche Bewohner“ ist eine Klasse für sich, zeichnet er doch ein spannendes Bild der ethnischen Alltagssituation in einem Land, das als der Schmelztiegel Südamerikas gilt und doch nach wie vor darum ringt, wie es den immer und überall durchscheinenden Rassismus abstreifen kann und mit seiner unglaublichen Vielfalt umgehen soll. Ein tolles Buch und unser achter Lesetipp!
Hm, war da nicht noch was oder noch wer? Ach ja, natürlich, Brasiliens Nationalpoet Paulo Coelho. Aber mein Gott, was soll man zu Coelho noch sagen, was nicht längst schon gesagt worden ist? Lassen wir’s also einfach. Stattdessen sehen wir uns morgen oder am Sonntag wieder – zu unserem dann dritten Rundgang über die Frankfurter Buchmesse 2013. Até logo!
Tags: 45. Frankfurter Buchmesse, Andréa del Fuego, Autoren, Bernardo Kucinski, Daniel Galera, Ehrengast Brasilien, Frankfurter Buchmesse 2013, Heleno Bernardi, Literaturzirkus, Michi Strausfeld, Milton Hatoum, Patricia Melo, Paulo Scott, Schriftsteller, Verlage, Verlagswesen
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