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FBM 2023 –Sa (4/5): Chaos und Kontrolle

Veröffentlicht in Gesellschaft, Klimakrise, Kultur, Kunst, Literatur, Medien, Politik, Unterhaltung | 21. Oktober 2023 | 23:41:26 | Roland Müller

Samstag. Die Pforten der Hölle werden geöffnet. Und Menschenmassen wälzen sich in Richtung Frankfurter Buchmesse. Wie lange werden die beiden dezent verkabelten Bodyguards den Überblick behalten, früh am Morgen? Wie auch immer, wir stürzen uns erneut für Euch ins Getümmel …

Wobei „Getümmel“ der tatsächlichen Situation kaum gerecht wird. Bereits auf den Rolltreppen von der S-Bahn-Station hinauf zur Messe beginnen wir zu ahnen, was dieser Tag bringen wird …

Mit einem Wort: Chaos. Je nach Blickwinkel wirken die verschlungenen Rolltreppen wie ein Labyrinth, entsprungen der Phantasie eines Escher. Nur dass nichts statisch, alles in Bewegung ist.

Und dann stecken wir plötzlich fest! Mitten in Halle 3.0 geht nichts mehr. Erst später erfahren wir, woran das liegt: Am zum Bastei Lübbe Verlag gehörenden Imprint Lyx werden messeexklusiv limitierte Farbschnitte von gängigen Romancebüchern angeboten. Und auf der Gegengeraden signiert gerade Sebastian Fitzek bei Droemer Knaur seinen neuesten Psychothriller „Die Einladung“. Mit der Folge, dass sich im weiteren Verlauf des Tages eine Warteschlange von mehr als 200 Metern Länge bilden wird, nicht nur am Stand, in der Halle, sondern bis weit hinaus auf die Agora. Wir flüchten nach draußen! Was fast eine Viertelstunde dauert und einigen handfesten Nachdruck erfordert.

Draußen auf der Agora ist immer noch hektisch genug, aber zumindest können wir ein wenig Luft holen. Über uns der zunehmend blaue Herbsthimmel. Neben uns der zum Bersten aufgepumpte Asterix des Egmont Verlags, der von einem wummernden Kompresser stetig neu befüllt wird. Ein Häppchen essen an einer der zahlreichen Verpflegungsstellen? Keine Chance. Auch hier Dutzende Meter lange Warteschlangen. Okay. Wir verziehen uns wieder nach drinnen.

Nach oben, Richtung Halle 3.1 – diesmal erklimmen wir die stählerne Außentreppe, clever wie wir sind. Sie bebt zwar bedenklich unter unseren Schritten (und denen jener Hundert, die auf die gleiche grandiose Idee gekommen sind), aber es geht voran.

Oben angekommen, bietet sich uns eine phantastische Aussicht über die gesamte Agora mit dem Frankfurt Pavillon, rechts hinten dem Pavillon des Ehrengasts Slowenien, darüber der Messeturm. Und all das vor einem urplötzlich fast wolkenlosen, blauen Herbsthimmel. Fast waren wir in Versuchung, zu vergessen, weshalb wir uns all das antun …

… Nämlich der Bücher wegen. Bücher wie beispielsweise dem bei C.H. Beck erschienenen Roman Salomés Zorn von Simone Atangana Bekono. Ein in zweierlei Hinsicht wichtiges und lesenswertes Buch. Erstens erzählt Bekono in diesem beachtlichen Debüt aus der Sicht einer wütenden jungen Frau ein Aufwachsen in einem zutiefst rassistischen Umfeld.

Und zweitens schafft sie es, mit einer intensiven und authentischen Sprache zu vermitteln, wie die Heranwachsende mit ihrem Zorn klarzukommen versucht und daran ebenso scheitert wie am blinden Aufgreifen der brutalen Verhaltenstipps ihres Vaters. Ein gelungenes Debüt. Und fast ein Lesetipp.

Auf jeden Fall ein Lesetipp (unser wievielter eigentlich?) ist Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels. Erschienen bei Hanser. Ein knallharter Krimi, der im New York der siebziger Jahre spielt. Brillant erzählt, spannend, mit einer guten Prise Witz. Der Text auf der Rückseite bringt es ziemlich gut auf den Punkt:

Ganz sicher einer der drei besten Kriminalromane des Jahres. Von einem, der sein Metier meisterhaft beherrscht. Deshalb ohne Einschränkung ein Lesetipp!

Achtung: harter Kontrast! Im Vorbeigehen (naja, eher Schieben, Drücken, Schubsen) greifen wir nach dem sehr persönlichen Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III – datierte Tagebuchnotizen eines wirklichen Philosophen, nicht eines TV-medialen Meinungsschwurblers, dessen Eitelkeit keine glaubwürdige Entschuldigung zulässt, wenn er wieder (einmal) in die falsche Schublade greift … aber lassen wird das. Wer aus wirklich allernächster Nähe beobachten will, wie ein Philosoph „tickt“, wie er beobachtet und bewertet, ist mit diesem Buch bestens bedient. Sehr anregend und deshalb Lesetipp!

Und wenn wir schon bei Sloterdijk sind, ist auch ein Hinweis auf Wer noch kein Grau gedacht hat statthaft. Vergangenes Jahr erschienen, eine politisch-philosophische Farbenlehre. Niemand polemisiert so elegant wie Sloterdijk, altersweise, wie er mittlerweile daherkommt.

Und nun kommen wir frei nach Monty Python zu etwas vollkommen anderem … Wien. Genauer gesagt Wolfgang Freitag: Nur in Wien. Ein kleines, grünes, erquickliches Büchlein über Absonderlichkeiten im Wiener Stadtbild. Skurril, nicht ohne Schmäh und einfach nur lesenswert. Eine Entdeckung am Stand des Czernin Verlags, an dem die meisten Besucher einfach vorübergehen (auf der Suche nach neuen Farbschnitten? Wer weiß das schon).

Der rückwärtige Text sagt, worum es geht. Profan? Von wegen! Wir lieben das! Lesetipp? Aber sowas von!

Gleicher Verlag, noch kompakteres Büchlein. Aber das hat es in sich. Beispielsweise für Autoren, deren Geschichten in einer Zeit spielen, als die USA mit dem OSS eine Institution besaßen, der sich auf besonders üble Arbeitsweisen verstand. Sabotage und psychologische Kriegsführung – Ein Handbuch ist genau das: Ein Handbuch mit konkreten Anleitungen, wie man den Feind zerrüttet, seine Moral bricht, seine Strukturen lahmlegt. Alles O-Ton des längst nicht mehr existierenden OSS, des Office for Strategic Services, das eine kurze aber höchst wirkungsvolle Blüte erlebte während des Zweiten Weltkrieges. Ein Blick auf die Rückseite macht Appetit …

Das eigentlich Erschreckende an dieser Fachlektüre: Von wenigen Details abgesehen ist der Inhalt auch heute noch relevant und anwendbar. So etwas gehört in jeden heimischen Bücherschrank. Man kann ja nie wissen …

Ein hübsches Organigramm des OSS lässt auf einen Blick erahnen, womit man es zu tun hat. Ein interessantes Stück Zeitgeschichte.

Zeitgeschichte finden wir auch ein paar Ecken weiter, bei den Aufbau Verlagen. Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi würden wir uns auch gerne mal treffen. Eloquent, nachdenklich, schlagfertig, oft witzig lässt uns der linkeste aller Elder Statesmen an seinen Gedanken und Einsichten teilhaben. Schade, dass Politiker wie er zu einer aussterbenden Spezies gehören, sehr schade.

Dann endlich kommen wir an unserem eigentlichen heutigen Ziel an: der Leseinsel der Unabhängigen Verlage. Wir sind ein bisschen früh dran für unser eigentliches Lesungs-Date. Aber Thomas Brussig: Meine Apokalypsen klingt gleichwohl spannend. Er beschreibt in seinem jüngsten Buch recht launig eine lange Reihe von scheinbaren Apokalypsen, denen immer der Ruf vorauseilte, das Ende der Menschheit einzuläuten. So weit, so gut. Vieles davon erscheint uns nachvollziehbar. Ob es allerdings im Kontext von Ozonloch, Millenium-Bug, Finanzkrise 2008 und Corona-Pandemie statthaft ist, die Klimakrise mit dem gleichen Maß zu messen, muss bezweifelt werden. Denn im Gegensatz zu allen vorangegangenen „Apokalypsen“ wird diese Entwicklung nicht wieder verschwinden. Sie wie Brussig (ein ansonsten von uns sehr geschätzter Autor) auf einer rein regionalen und lokalen Ebene hierzulande zu bewerten, geht am globalen Zusammenhang vorbei. Der Moderator (vom Verlag?) bemühte sich nach Kräften, Brussigs etwas schräge Realitivierung aus der Schusslinie zu nehmen. Das gelang allerdings nur teilweise. Aber egal. Wir waren ja nicht wegen Brussigs Apokalypsen hierher gekommen. Sondern …

… wegen einer lieben Forumskollegin vom DSFo, Varina Walenda. Sie hat soeben mit ihrem Debütroman Dopamin & Pseudoretten beim kleinen und feinen Voland & Quist Verlag in Berlin reüssiert. Hier und heute hält sie bereits ihre zweite öffentliche Lesung. Die erste fand in spektakulärer Kulisse statt, nämlich im Frankfurter Römer, bei der traditionsreichsten Literaturveranstaltung der Mainmetropole, Literatur im Römer. Ein tolles Buch, ein richtig guter Gegenwartsroman, der viele Aspekte der Diversität und Buntheit der Gesellschaft, der Licht- und Schattenseiten queerer Existenz beleuchtet, mit einem überraschenden Twist versehen und in einer authentischen, heutigen Sprache geschrieben ist, die einen unmittelbaren Sog in die Story auslöst. Ein glänzendes Debüt, liebe Vari!

Wie es scheint, wurde unser Urteil von einer ganzen Menge der Anwesenden geteilt. Denn im Anschluss an die Lesung knäulte sich bereits eine Gruppe junger, meist weiblicher Fans um die Autorin, um sich den Debütroman signieren zu lassen. Wenn das mal kein gutes Zeichen ist 😉

So nahm ein chaotischer, hektischer, anstrengender vorletzter Messetag dann doch noch ein versöhnliches Ende. Mit einem Blick auf die immer wieder futuristisch wirkende Dachkonstruktion der Halle 3.1 schieben, drängeln und stoßen wir uns durch in Richtung Ausgang der Messe. Wir hoffen , es hat Euch Spaß gemacht, uns auf unserer diesjährigen Rundreise durch die heiligen Messehallen zu begleiten. Nächstes Jahr kommen wir wieder, versprochen!

Morgen gibt’s an dieser Stelle noch einen weiteren, den letzten Beitrag usnerer Berichterstattung von der 75. Frankfurter Buchmesse. Mit einem Rückblick auf Skurriles und Absonderliches der diesjährigen Messe, einer Überraschungszugabe und einer ausführlichen Würdigung einiger Neuerscheinungen des Wagenbach Verlags. Denn der, wie wir gerade mit Entsetzen feststellen, wäre diesmal fast unter unserem Radar geblieben. Unentschuldbar. In diesem Sinne: Stay tuned until tomorrow!

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