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Frankfurter Buchmesse 2018 (1): Politischer denn je

Veröffentlicht in Gesellschaft, Internet, Kultur, Kunst, Literatur, Medien | 11. Oktober 2018 | 11:05:07 | Roland Müller

FBM18_01_Textpruef

70. Frankfurter Buchmesse. Ein strammes Jubiläum. Und erneut, mehr noch als im Vorjahr, eine hochpolitische Buchmesse. Diesmal mit dem Ehrengast Georgien, auf den wir gesondert noch zu sprechen kommen werden. Faszinierend, wie Spock sagen würde. Dies ist übrigens, wenn wir richtig mitgezählt haben, unsere 11. Frankfurter Buchmesse, von der wir hautnah berichten, als Auge und Ohr unserer LeserInnen. Und diesmal, soviel sei versprochen, gibt’s mehr Lesetipps als je zuvor. Nicht weil wir fleißiger waren als eh schon, sondern weil in der Tat in diesem Jahr besonders viele Entdeckungen zu machen waren. Die wir einer intensiven Textprüfung unterziehen. Damit also bienvenue, welcome, willkommen bei einer Frankfurter Buchmesse, die es in sich hat…

FBM18_02_Kontrolle

Wir bringen als Fachbesucher natürlich erst einmal die leidlich intensive Eingangskontrolle hinter uns.

FBM18_03_Entree

Dann stürzen wir uns ins Getümmel, wie immer beginnend mit Halle 3.0 und klarem Blick auf bellestristische Neuentdeckungen. Was nicht bedeutet, dass wir uns Sachbüchern verschließen werden. Ganz im Gegenteil.

FBM18_04_ModianoErinnerungen

Da einer unserer Lieblingsverlage, Hanser, fast unmittelbar hinterm Eingang zur Halle 3.0 platziert ist, starten wir hier mit unserer diesjährigen Entdeckungsreise. Und werden spontan, nach kurzem Anlesen auch schon fündig: Patrick Modianos „Schlafende Erinnerungen“ vermag uns einmal mehr für den Literaturnobelpreisträger zu begeistern. Modiano entführt uns auf eine faszinierende Reise in das Paris der späten 50er und frühen 60er Jahre. Eine Reise, die von keinem roten Faden geleitet wird, irgendwie zwischen Traum und Sein mäandriert und genau daraus ihren Reiz bezieht. Bis hin zum letzten Satz des Buches: „In deinen Erinnerungen vermischen sich Bilder von Straßen, auf denen du gefahren bist, und du weißt nicht mehr, welche Provinz sie durchquerten.“ Wir können nicht umhin, unseren 1. LESETIPP zu vergeben.

FBM18_05_Koehlmeier

Wir beißen uns – nicht ganz unerwartet – weiter am Hanser Stand fest. Nächste Entdeckung: Michael Köhlmeiers „Bruder und Schwester Lenobel“. Ach ja, der Köhlmeier. Figuren, die sich ineinander verstricken und mit der Welt ringen, ein kleines Universum davon. Einige kennen wir schon aus früheren Büchern. Weniger die Handlung besticht als wieder einmal die Psychologie der Handelnden. Der spontane Aufbruch eines arrivierten Wiener Psychiaters jüdischer Herkunft nach Jerusalem auf der Suche nach einem Weg, die Blockade seiner traumatischen Familiengeschichte zu überwinden, ist romantisch, deprimierend, optimistisch, alles zugleich und damit eine gelungene Erzählung vor einem spannenden kulturellen Hintergrund. Was uns einen 2. LESETIPP wert ist.

FBM18_08_PhilipRoth

Als unser Blick über die Sonderplatzierung der Werke von Philip Roth schweift, nach unten, bleibt er irgendwie hängen. Nicht bei den durchweg brillianten Roth’schen Werken – für die man sich sicher leicht begeistern kann nach all den erfolgreichen Verfilmungen – sondern an der unteren Etage des Displays…

FBM18_09_HallidayAsymmetrie

Lisa Hallidays „Asymmetrie“ springt uns ins Auge. Ausgelöst durch einen geschickten Verwerfungseffekt der Bildebenen auf dem Cover steigen wir in das Buch ein und verstehen schnell, warum es im gleichen Display ausgestellt wird wie Roths Romane: Die beiden hatten eine leidenschaftliche Affäre. Schau an. Und nun debütiert Lisa Halliday mit einem wie wir meinen grandiosen Erstlingswerk, das genau diese Beziehung thematisiert. Ihre Figur Ezra Blazer spielt erkennbar auf Roth an, den erfolgreichen jüdischen Schriftsteller. Die Protagonistin Alice Dodge wiederum trägt erkennbar autobiografische Züge. Doch das Buch ist weit mehr als eine Verarbeitung pikanter Details. Jenseits der US-automobilen Namensgebung der handelnden Personen verbindet es eine wunderbare, ruhige Sprache mit deftigen Details und einer zwischen den Zeilen durchschimmernden Ironie, die Klasse hat. Es stellt im ersten in Brooklyn spielenden Teil die ganz grundsätzliche Machtfrage zwischen Mann und Frau. Während Teil 2 in Bagdad eine ganz andere Geschichte erzählt. Asymmetrie eben. Aber eine mit sehr genauer Berechnung und alles andere als im unteren Schlagschatten eines Philip Roth. Roth ist tot. Es lebe Lisa Halliday! Unser 3. LESETIPP!

FBM18_13_Vertrieb

Vorbei an intensiven Vertriebsgesprächen wenden wir uns der Sachbuchfraktion zu, wo Hanser ja ebenfalls einiges zu bieten hat. Wir stoßen auf…

FBM18_10_VerheyenLeistung

…eine akademische Arbeit, die sich kulturhistorisch und soziologisch mit dem beschäftigt, was gemeinhin als Kern des Kapitalismus gedeutet wird – die Leistung. Nina Verheyen, Historikerin an der Uni Köln, legt mit „Die Erfindung der Leistung“ eine brillante Analyse jenes Begriffs vor, der unsere Gesellschaft prägt wie kein anderer. Im historischen Kontext, bewusst zwischen allen Fronten, mal ideologiekritisch, mal ökologisch, mal geradezu psychotherapeutisch. Ein rundum gelungenes Sachbuch zu einem Thema, dem wir auf absehbare Zeit nicht entrinnen werden. Trotz des akademischen Ansatzes ist dieses Essay gut zu lesen und erschließt teils neue Sichtweisen. Damit ist es für uns verdammt nah am 4. Lesetipp.

FBM18_11_GasdanowNaechtlicheWege

Dieser jedoch gebührt Gaito Gasdanow, dem 1971 verstorbenen exilrussischen Romancier und Journalisten, der mit „Nächtliche Wege“ einen Roman geschrieben hat, der uns buchstäblich verzaubert. Mein Gott, die Russen! So viel literarisches Talent… Gasdanow entführt uns ins nächtliche Paris der 30er Jahre, in die Welt der Emigranten, wo er als Nachttaxifahrer Figuren trifft, wie sie wohl nur an jenem Ort und zu jener Zeit entstanden sein konnten. Mehr als nur ein Hauch von Camus streicht durch die Straßen der Seine-Metropole. Präzise beobachtet und beschrieben, wunderbar im Lesefluss. Eine wichtige Neuentdeckung eines fast vergessenen Schriftstellers: unser 4. LESETIPP.

FBM18_12_SlezkineHausderRegierung

Auch wenn es in den Zusammenhang gepasst hätte, lassen wir Juri Slezkines monumentales Epos „Das Haus der Regierung“ links liegen. Was durchaus schwerfällt, gibt es doch derzeit kaum einen vergleichbaren Roman, der sich so intensiv mit der Geschichte der russischen Revolution und der UdSSR zwischen Lenin und Stalin auseinandersetzt. Aber wir haben uns nun lange genug bei Hanser aufgehalten.

FBM18_14_EditionKrimi

Entgegen unserer sonstigen Gewohnheit ignorieren wir auch die vielfältigen Thriller-Angebote in den Gängen der Ausstellungshalle 3.0 – selbst wenn uns ein Stichwort wie „Sachsenmorde“ ins Grübeln kommen lässt, allerdings aus ganz anderen Gründen…

FBM18_15_FBVSarazinBlockchain

Im Vorbeigehen fallen uns charmante Gegensatzpaare auf wie Sarazins „Feindliche Übernahme“ unmittelbar neben Blockchain und Kryptowährungen. Ein ungewollt witziger Kontrast von Ewiggestrigem und Unvermeidbarmorgigem.

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Wenn’s denn schon politisch sein soll mit aktuellem Bezug zum Hier und Heute, dann empfehlen wir lieber einen intensiven Blick in das Werk von Erich Kästner. Wer sucht, wird fündig beim Atrium Verlag.

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Womit es auf unserem Weg nun endlich politischer wird. Fast unvermeidbar stolpern wir bei DVA über Dirk Laabs angemessen schonungslose Abrechnung mit der Deutschen Bank AG: „Bad Bank. Der investigative Journalist legt damit ein Buch vor, das mindestens so systemrelevant für diese Republik ist wie die besagte Bank dies für sich selbst reklamiert. Unbedingt unser 5. LESETIPP.

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Um einen eleganten thematischen Anschluss nie verlegen, fällt uns bei Knaus ein Buch in die Hand, das zumindest indirekt auch etwas mit der Deutschen Bank zu tun haben könnte. Gerald Hüther, seines Zeichens Neurobiologe, macht sich mit „Würde“, einem vergleichsweise schmalen Band, umso tiefgreifendere Gedanken zu dem, was uns stark macht, als Einzelne und als Gesellschaft. Vielleicht auch – zur Abwechslung – als Bank? Unser 6. LESETIPP.

FBM18_18_TheaDornDeutsch

Und wo wir schon mal dabei sind, den mahnenden Zeigefinger zu heben, gerne auch jenseits des Bankunwesens, führt kein Weg vorbei an Thea Dorns so brillantem wie offenkundig notwendigem Leitfaden für aufgeklärte Partioten mit dem prägnanten Titel „deutsch nicht dumpf“. Vermutlich vermag es in diesen Tagen nur eine Thea Dorn zu schaffen, das Deutsche vom Dumpfen zu trennen, ohne dabei in die zahllosen Fettnäpfe zwischen Heimatgefühl, Party-Patriotismus, Links- oder Rechtspopulismus, Leitkultur und Selbsthass hineinzutappen. Erstaunlich! Abgeklärt, präzise in der Analyse, differenziert und überzeugend in der Argumentation. Gehört unseres patriotischen Erachtens als 7. LESETIPP ins heimische Bücherregal gleich neben das Grundgesetz. Das steht dort doch, oder?

FBM18_19_JonassonHundertjaehrige

Im Weitergehen streifen wir den Stapel des wiederauferstandenen Hundertjährigen, gleich neben einem fast gleich hohen Berg von Bast Kast‘ Ernährungs-Kompassen. Witzig, irgendwie, im hoffentlich ungewollten Bezug zueinander.

FBM18_19_Pfadfinderstiftung

Was der Herr von der Pfadfinderstiftung wohl dazu meinen mag? Der ganz oben im Stand platzierte Dreizeiler GIB SEX KEINE CHANCE lässt es uns irgendwie ahnen.

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Am Stand der Süddeutschen Zeitung ist um diese Zeit noch wenig los. Also mäandrieren wir weiter auf der Suche nach unbedingt Lesenswertem.

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Na also, geht doch. Der neue Martenstein tut es uns an. „Jeder lügt so gut er kann“ scheint uns bestens in die Zeit zu passen, wo der Mob „Lügenpresse“ skandiert. Unser Lieblings-Kolumnist ist schließlich Pflichtlektüre, zu der man kein Wort mehr verlieren muss: Lesen, nachdenken, ablachen: 8. LESETIPP!

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Eine unserer üblichen Übungen beim Durchstöbern der ausgelegten Neuerscheiungen einer Buchmesse ist das dreifaltige Anlesen: Erste Seite, erster Satz; dann eine Passage irgendwo in der Mitte des Buches; schließlich die letzte Seite. In der Regel genügt dies, sich einen zutreffenden Eindruck über die Qualität eines Buches zu machen, insbesondere, wenn es um Belletristik geht. Das funktioniert auch hier…

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…bei David Sedaris „Calypso“. erschienen im Blessing Verlag. Es wird uns wohl ewig ein Rätsel bleiben, warum der Autor hierzulande schlicht als Humorist bezeichnet wird. Das greift eindeutig zu kurz. Vielmehr ist er ein Meister der literarischen Miniatur, der tief eintaucht in den Alltag des Lebens. Dass genau dieser Anlass zu oft homerischem Gelächter bietet, nun ja, das liegt doch irgendwie auf der Hand, oder? Ganz klar unser 9. LESETIPP.

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Zum Abschluss unseres heutigen ersten Messetages – unmittelbar anschließend an das, was wir heute schon über Würde und Patriotismus gelernt haben – noch eine besondere Empfehlung an unsere LeserInnen fortgeschrittenen Alters als unser 10. LESETIPP: Wieland Wagner, langjähriger Japan-Korrespondent des Spiegel und intimer Kenner des Landes hat sich nach vielen Jahren der Abwesenheit erneut ins Land der aufgehenden Sonne aufgemacht und dort Erstaunliches beobachtet. „Japan. Abstieg in Würde“ zeigt eindringlich auf, wie eine von der Alterspyramide erdrückte Gesellschaft um ihre eigene Würde ringt. Vielleicht können und müssen wir daraus etwas lernen. Etwa, dass es überlebenswichtig ist, ein definiertes Einwanderungsland zu sein!

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Erschöpft von der Vielzahl der Neuerscheinungen schleppen wir uns nach gut vier Stunden aus den heiligen Hallen des Leserauschs hinaus an die Frischluft. Vorbei am hübsch drapierten literaTOUR Bus

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…und weiter, auf der Suche nach einem netten Lunch. Bekanntermaßen wird das Innere des Hallenkarrees der Frankfurter Messe von allerlei Streetfood Anbietern bevölkert.

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Der Duft und eine lange Warteschlange locken uns zum Thai Wok.

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Bei zwei Roten Curry mit Bambus, Ananas und Huhn schöpfen wir neue Kraft für den nächsten Rundgang. Und von genau dem berichten wir später am heutigen Tag. Bis dann!

 

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