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Frankfurter Buchmesse 2016 (Teil 4) – von Digital Natives und Digital Naives

Veröffentlicht in Gesellschaft, Internet, Kultur, Kunst, Literatur, Medien | 22. Oktober 2016 | 21:56:16 | Roland Müller

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Bevor die Buchmesse für den wochenendlichen Publikumsverkehr geöffnet wird und es vollends unübersichtlich wird in den heiligen, dem Kulturgut Buch geweihten Messehallen, drehen wir eine letzte Runde. Diesmal mit scharfem Blick all die großen und kleinen Absurditäten, Besonderheiten und durchaus notizwürdigen Begebenheiten der Messe. Responsives Lesen ist einer dieser durchaus ungewohnten und innovativen Aspekte, dem wir eher zufällig in Halle 4.1 begegnen. Und sei es nur als T-Shirt-Aufdruck und eine in der Tat skurrile Smartphone Overhead-Montage…

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Bevor wir uns den Effekten der Digitalisierung des gedruckten Wortes an anderer Stelle und dann etwas intensiver widmen, arbeiten wir die letzten analogen Erfahrungen dieser Messe ab. Beispielsweise, indem wir die soeben bei Czernin erschienene Biographie des streitbaren EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz einfach links liegen lassen.

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Stattdessen gönnen wir Euch und uns mit Marcia Zuckermanns jüdischer Familiensaga Mischpoke, erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt, einen der raren, hierzulande – in diesem Fall größerenteils im roten Berliner Stadtteil Wedding – angesiedelten Familienromane, die jenseits aller historischen Schwülstereien absolut lesenwert und zudem gute Unterhaltung sind. Unser erstes An- und Querlesen scheint Jamal Tuschicks Eindruck zu bestätigen. Ein Rezensionsexemplar ist demnächst auf dem Weg zu uns. Und der neunzehnte Lesetipp ist es allemal.

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Zu Carolin Emckes Streitschrift Gegen den Hass brauchen wir eigentlich nichts mehr zu sagen. Außer, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mehr als berechtigt war. Wir haben eh viel zu wenige vergleichbar präzise DenkerInnen und PhilosophInnen, die mit solch klarer Sprache gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu Felde ziehen. Lesetipp Nummer Zwanzig!

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Auf dem Weg hinüber zu Halle 4.1 werden wir von vage bekannt erscheinenden Tönen aufgehalten. Tatsächlich! Herman van Veen, niederländisches Barden-Urgestein, intoniert da in seiner unnachahmlichen Art. Meine Güte, er ist alt geworden. Und wir wohl mit ihm…

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In Halle 4.1 angekommen, gehen wir die Gänge ganz durch bis zum Ende der Halle, biegen nach links und werfen einen schnellen Blick auf das neueste Monsterdruckwerk des Taschen Verlags: The David Hockney Sumo. Ob die 2.000€ für diese schwergewichtige Werkausgabe des Schaffens eines der größten noch lebenden Malergenies angemessen sind, mag jeder Kunstliebhaber für sich selbst entscheiden. Tatsache ist: Eingedenk der Preise, die für Hockney-Originale aufgerufen werden, ist dieses handliche Coffeetable Buch ein echtes Discountangebot.

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Und dann, hoppla! ringen wir uns doch noch einen letzten, den einundzwanzigsten Lesetipp ab. Am Gemeinschaftsstand österreichischer Independent-Verlage blättern wir in Gut aber tot, einem äußerst gelungenen Kriminalroman von Eva Rossmann um deren Heldin Mira Valensky. Besonders charmant neben Evas plastischer und dialogreicher Sprache finden wir die Tatsache, dass der Plot in Veganerkreisen spielt. Na, das wäre doch mal ein nettes Mitbringsel, oder? Schließlich hat doch jeder von uns vegane Bekannte in seinem Umfeld.

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Ein schneller Wechsel der Gefühle stellt sich ein beim Anblick einiger Studentenarbeiten zum Thema Flüchtlinge in Deutschland. Herausragend ist in unseren Augen dieses von Samet Bulut, einem 23jährigen Grafikdesign-Studenten!

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Und dann stoßen wir auf das Google Cultural Institute. Schon mal gehört? Nein? Wir auch nicht. Aber bei näherer Anschauung passt es perfekt in Googles Geschäftsmodell, Kunstwerke zu digitalisieren und weltweit öffentlich zugänglich zu machen.

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Allerdings: So wirklich viel Interesse scheint Googles Arts & Culture Projekt auf der Frankfurter Buchmesse nicht gefunden zu haben. Woran das wohl liegen mag? Vermutlich nicht am Purismus des Standdesigns.

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Bevor wir die letzten Ziele auf der diesjährigen Messe ansteuern, erholen wir uns ein paar Minuten an der am originellsten dekorierten Bar der Messe. Plötzlich weht in den sachlich kühlen Messehallen ein Hauch von Steampunk durch die Gänge. Wirklich nett! Als wir uns dann trennten und jeder seiner Wege ging, war die Messewelt in bester Ordnung.

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Ich selbst bin halbwegs pünktlich am Orbanism Space in Halle 4.1 angekommen. Nun, eigentlich sollte hier ab 16 Uhr unter dem schönen Titel BLOGBUSTER 2017 ein durchaus bemerkenswertes Experiment gestartet werden – der Startschuss zum Preis der Literaturblogger, der 2017 an den interessantesten noch nicht veröffentlichten Debütroman des Jahres vergeben werden soll. Zur besagten Startveranstaltung gibt’s hier jede Menge Informationen respektive einen Livestream. So weit, so gut. Da ich mich aber schon um 14 hier umtat, stolperte ich mehr oder weniger unvorbereitet in eine Veranstaltungsrunde mit ein paar Dutzend Buchbloggern. Organisiert und moderiert von Tanja Rörsch von Mainwunder und Susanne Kasper von Literaturschock. Beides übrigens sehr empfehlenswerte Seiten. Drehte sich anfangs noch alles um das offenbar für zahlreiche Buchblogger spannende Thema, wie man mit seinem Blog Einnahmen generiert, konnte es nicht ausbleiben, dass sich nach der recht professionellen Präsentation hierzu weitere Fragen im Publikum aufdrängten…

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…wobei natürlich alles, wie es sich in unserer digitalen Zeit gehört, auf Video mitgeschnitten wurde.

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Recht schnell kreisten die Fragen um etwas sehr Grundsätzliches: Ist es legitim, von einem Verlag ein kostenloses Rezensionsexemplar für eine Buchbesprechung anzunehmen und wenn ja, wie soll man damit umgehen. Ja, wie soll man? Man könnte es als legitimen Input für die eigene Arbeit sehen und als Wertschätzung für die investierte Zeit. Und vielleicht als Beginn einer langen, vertrauensvollen Zusammenarbeit. Wobei sich zumindest eine Bloggerin in die Aussage verstieg, dass man ja schließlich „eine Macht“ sei und dediziert zum Abverkauf der Bücher beitrüge. Auch wenn die Verlage nicht mit Zahlen herausrückten, die dies auch verifizierten. Womit die Diskussion in eine so spannende wie gefährliche Ecke driftete, so spannend, dass ich mich ebenfalls zu Wort meldete. Bereits die Andeutung, dass jeder Blogger sich auf einer durchaus moralischen Ebene entscheiden muss, ob er sein Bücherblog als Geschäftsmodell betreiben will – um so Profit zu generieren – oder ob strikte Unabhängigkeit unter Ablehnen jeglicher Goodies das persönliche Ansinnen ist, löste größten Missmut bei den vorwiegend jugendlichen und vorwiegend weiblichen Anwesenden aus. Erst recht, als der zugegebenermaßen provokante Hinweis folgte, dass es in der Natur der gut geölten Marketingmaschinerie der Großverlage liegt, Blogger schleichend für ihre eigenen Interessen einzuspannen. Auch Verlage sind zuallererst Wirtschaftsunternehmen, die Gewinne abzuwerfen haben. Wohlbemerkt, die Rede ist hier von großen, etablierten Verlagen. Bei den kleinen, inhabergeführten mag das ein wenig anders aussehen.

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Autsch! Das kam nun gar nicht gut an beim Auditorium. Hatte man sich zuvor noch darlegen lassen, wie einfach es ist, mit Bannerwerbung und allerlei Schnickschnack das eigene, hoffentlich gut besuchte Blog zur zumindest kleinen Gelddruckmaschine aufzuwerten, kam nun das böse, böse Wort Moral ins Spiel. Moral in der digitalen Welt? Ja, was soll das denn? Wie soll es auch einsehbar sein, dass selbst die von einem Großverlag ausbezahlte Währung Wertschätzung erste Gefahren der Vereinnahmung birgt? Es ist doch toll, wenn man beliebt ist, oder? Und um so beliebt zu bleiben, urteilt man dann vielleicht – bewusst oder unbewusst – bei der nächsten Rezension eines etwas weniger gelungenen Werks ein wenig vorsichtiger. Weil man ja plötzlich etwas zu verlieren hat. Mit mehr als 30 Jahren analoger und digitaler Marketingerfahrung im Rücken kann ich es mir durchaus leisten, dem glitzernden Bild der schönen neuen Buchbloggerwelt ein paar Schrammen zuzufügen. Sei’s drum. Dass Susanne Kasper von Literaturschock sich dann bemüßigt fühlte, mir „ein sehr merkwürdiges Menschenbild“ zu unterstellen, schmerzte zwar, warf aber nur ein deutliches Licht auf die Naivität der versammelten Digital Natives. Und allein das ist es, was mich heute, zum Abschluss unseres diesjährigen Messerundgangs, ein wenig traurig stimmt. Ich hatte mir wohl einfach mehr Einsicht in die Mechaniken des harten Verlagsgeschäfts und kritische Distanz zu ihren Honigtöpfen gewünscht. Naiv auch ich? Vermutlich ja.

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Mit diesem kleinen Missklang, aber gleichwohl ein fröhliches Adorno- und Horkheimer-Liedchen auf den Lippen, strebte ich dann dem Ausgang entgegen. Nur um in eine gut gelaunte Gruppe Literaturtouristen hineinzulaufen, die sich zur Erinnerung an den großen Tag ablichten ließen…

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…Und zwar von einem freundlichen Polizisten. Das wiederum, so finde ich, ist doch nun wirklich ein versöhnlicher Abschluss unserer Reportage aus den heiligen Hallen des internationalen Literaturrummels mit all seinen Höhen und Tiefen.

Es war dem Team vom digitalen Café wie alle Jahre wieder eine Freude, Euch allen da draußen, die Ihr keine Gelegenheit fandet, die Frankfurter Buchmesse 2016 zu besuchen, Auge und Ohr zu sein. Und ganz klar, auch 2017 werden wir wieder für Euch vor Ort sein. Bis dahin: Lest gute Bücher!

 

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3 Antworten zu “Frankfurter Buchmesse 2016 (Teil 4) – von Digital Natives und Digital Naives”

  1. 25. November 2016 um 00:08:22 | ehemaliger MacGuardians Leser sagt:

    Hallo,

    es wäre mal wieder an der Zeit ein Mac-Thema aufzugreifen 🙂
    Sind bald drei Jahre her 😉

  2. 25. November 2016 um 09:55:53 | Roland Müller sagt:

    Hallo Kai,

    nun, wenn ich mir anschaue, wie sich Apple vom mutigen Innovator zum simplen Mainstream Konzern „entwickelt“ hat und Trends eher hinterher läuft als neue zu setzen, fallen mir wenig Themen ein, die berichtenswert wären 😉 Wenn Dir etwas einfällt, dann lass hören. Oder besser noch, schreib‘ selber was für Cafe Digital ;-))

  3. 25. November 2016 um 12:04:59 | ehemaliger MacGuardians Leser sagt:

    Hallo Roland,

    nicht Kai, aber so ähnlich 🙂
    Mit deiner Feststellung hast du natürlich Recht.

    Schön, dass es CafeDigital noch gibt. Einer der Letzten von Einst.
    Das MacGuardians-Forum hat es ja auch überlebt und auch das MacNews-Forum 🙂

    Grüße
    Karl