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Ein Tag mit Octavio Solis

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Musik | 31. Mai 2014 | 15:57:09 | Roland Müller

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Octavio Solis, nie gehört? Das kann gut sein hier in der Bildungsrepublik Deutschland, wo uns von den großen Dramatikern allenfalls Bert Brecht ein Begriff ist. Oder, wenn wir in der Schule im Englischunterricht aufgepasst haben, vielleicht noch Eugene O’Neill, dessen gebrochenen, jeden Glauben verlorenen Charaktere bereits in den zwanziger Jahren die Kehrseite des amerikanischen Traums in einer Weise darstellten, wie sie heute im Angesicht des zerfallenden US-Mittelstands wieder von erschreckender Aktualität ist. Eben dieser Eugene O’Neill war es, der uns Ende Mai diesen Jahres in seinen Bann und damit ins sonnige Kalifornien gezogen hat. Genauer gesagt nach Danville unweit von Oakland, wo der Literaturnobel- und  Pulitzerpreisträger mit seiner dritten Ehefrau sieben Jahre seines Lebens verbracht hatte. Im sogenannten Tao House, heute eine National Historic Site mit leider gar nicht so einfachem öffentlichem Zugang. Genau hier waren wir auf Einladung der Eugene O’Neill Foundation mit Freunden verabredet, um im historischen Ambiente der im Rahmen der ‚Playwright’s Theater Series‘ zur intimen Theaterbühne umgebauten Scheune „The Old Barn at Tao House“ der Aufführung von „El Paso Blue“ beizuwohnen, einem der mittlerweile mehr als 20 Theaterstücke eben jenes Octavio Solis, der vielen Kennern der US-Literaturszene nicht erst seit der Pulitzerpreis-Nominierung seines Stückes „Lydia“ als einer der bedeutendsten Dramatiker der Gegenwart gilt. Wir hatten die Chance, uns an historischem Ort selbst zu vergewissern, ob dem so ist…

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Worum geht es in „El Paso Blue“ (im Foto v. l nach r.: Armando Rodriguez, Teddy Spencer und Carla Pauli)? Um mit den Worten des Autors und Regisseurs Octavio Solis zu sprechen, um dies:

„El Paso Blue spielt aus offensichtlichen Gründen in der Stadt meiner Geburt, jener Stadt, die durch Marty Robbins‘ gleichnamigen Song unsterblich geworden ist. Aber auch viele meiner anderen Stücke spielen in El Paso, weil es für mich das Zentrum kultureller Entwurzelung schlechthin darstellt. El Paso liegt in einzigartiger Weise genau auf dem Schnittpunkt zweier Welten, Lebenssituationen und widerstreitender Träume. Als hybrider Stadt-Staat beides vertretend, die USA und Mexico, ist El Paso ein Hornissennest der Widersprüche: das funkelnde Versprechen des Amerikanischen Traums reibt sich an den Verpflichtungen von Tradition und Familie, der ungezügelte Spirit des Grenzlandes trifft auf den Respekt vor Regeln und Tabus, die sich ausdehnende Wüste wird belagert von ausufernden Vororten, das Tor zum besseren Leben versperrt von der Angst vor Veränderung. Diese Gegensätze haben eine ganz besondere Bedeutung für die Menschen, die in diesem Niemandsland leben. Hin- und hergerissen von den gegensätzlichen Kräften ringen sie darum, sich selbst zu definieren, für sich selbst festen Grund zu finden, beiden Welten anzugehören ohne die jeweils andere preiszugeben, zu verstehen, was „Bürger“ und „Fremder“, was Heimat“ und „Amerikanisch“ bedeutet. Für sie wie für mich ist El Paso der Tiegel, in dem das nächste Amerika geschmiedet wird.“

„El Paso Blue“, das zeigte sich selbst für unsere mit dem amerikanischen Idiom weniger vertrauten Ohren, ist ein überaus expressives Stück. Eine Art Tex Mex Roadmovie, der mit großem Tempo und einer verblüffend diesseitigen Sprache voller Fleisch und Blut und erfrischender Tragikomik das auf die Bühne bringt, was an der Nahtstelle von hispanischer und nordamerikanischer Kultur hart im Raum aufeinandertrifft: die Obsession vom besseren Leben „drüben“, das schlussendlich tragische Scheitern der Protagonisten an ihrer eigenen Vita, ihrer Erziehung und ihren Erwartungen. Politisch wenig korrekt. Offensiv in der Sprache, zumal dort, wo Solis geradezu genial weißes Englisch und mexikanisches Spanisch zu einem Straßen- und Gossenjargon verschmilzt, der an plastischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Das alles immer wieder subtil musikalisch getrieben, gebrochen und kommentiert durch den begnadeten Blues- und Bluegrass-Gitarristen Michael „Hawkeye“ Herman. Redaktionskollege Dirk würde sagen: „großes Kino!“

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Spannend auch, dass die verbindenden Kommentare des Stückes aus dem Off gesprochen wurden, kurz nur, deskriptiv, so wie die knappen Regieanweisungen im Storyboard eines Kinofilms. Selbst das war, wie die gesamte Bühnenperformance, eine hingebungsvolle und mitreißende Leistung des sechsköpfigen Theaterensembles, das kaum zwei Tage Zeit gehabt hatte, „El Paso Blue“ zu proben: Arwen Anderson als Alejandros tingelnde blonde WASP Freundin Sylvie, Matt Kizer als Sylvie erliegender Ödipus Jefe, Carla Pauli als hinreißend alterskluge Hispano-Chica China, Armando Rodriguez als Jefes Sohn Alejandro, der sich zum Vatermord hinreißen lässt, Teddy Spencer als Alejandros Buddy Duane, dessen rundfunkempfangende Metallplatte im Kopf die Lacher in die Tragödie einspeist und schließlich Frederick Merlos als Bühnen-Offstimme (siehe Foto).

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Die 90 Minuten mit nur kurzer Atempause zwischendurch vergingen wahrhaft atemlos, getrieben vom der raffinierten inneren Beschleunigung des Stücks. Was nach dem langanhaltenden Applaus folgte, war dann nicht minder spannend. Hatte sich doch einer der einflussreichsten Theaterkritiker und Kolumnisten der Bay Area angesagt, Robert Hurwit vom traditionsreichen San Francisco Chronicle. Mit ihm entspann sich nach Vorstellung durch die ausgewiesene O’Neill-Expertin Eileen Hermann-Miller, PhD sowie die offizielle Laudatio durch Barbara Kuklewicz, die Präsidentin der Eugene O’Neill Foundation, eine überaus interessante und aufschlussreiche Diskusssion zu seinem hier inszenierten Stück und seiner Affinität insbesondere zum experimentellen, realistischen Frühwerk O’Neills.

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Und nicht zuletzt zu seiner besonderen Beziehung zu Michael „Hawkeye“ Herman (im Vordergrund) und dessen sensibler musikalischer Illustration etlicher Solis‘ Stücke. Eine ungewöhnliche Kombination gerade für uns „Altweltler“, die wir derlei Grenzüberschreitungen auf Theaterbühnen des deutschsprachigen Raums nur wenig und eigentlich viel zu selten erleben.

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Beim später dann folgenden gemeinsamen Dinner von Mitgliedern der O’Neill Foundation, Octavio Solis und Frau, Michael „Hawkeye“ Herman, Robert Hurwit und uns aus der Ferne angereisten „Exoten“ erlebten wir bei feiner italienischer Küche einen unerwartet humorvollen, gutgelaunten und höchst unterhaltsamen Dramatiker und Theaterregisseur, der so gar nicht dem Klischee entsprach, das wir in unseren Köpfen aufgrund der tragischen Attitüde seiner zwischen den Grenzen zweier Kulturen buchstäblich zerriebenen Charaktere entwickelt hatten. Kein Zweifel, dieser Octavio Solis ist ein Dramatiker, den es auch hier in Europa zu entdecken gilt. Denn nicht nur in den Vereinigten Staaten mit ihrer immer weiter anwachsenden hispanischstämmigen Bevölkerungsgruppe sind interkulturelle Missverständnisse und Disharmonien zu thematisieren. Auch in Europa mit seiner wachsenden Festungsmentalität und einer zumindest uns erschreckenden Abwehrhaltung gegenüber all jenen, die getrieben vom legitimen Streben nach einem zumindest wirtschaftlich besseren Leben an unseren Gestaden angespült werden, könnte Solis‘ Sicht der Dinge zu mehr Klarheit und Akzeptanz beitragen. So gesehen ist es eine Schande, dass seine Stücke bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind – auch wenn das aufgrund der oft gewagten amerikanisch-hispanischen Sprachfusionen gewiss nicht einfach sein mag.

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So bleibt uns nach einem langen, ereignisreichen und eindrucksvollen Theatertag nur eines als Fazit zu hoffen: Dass dieser Mann, ganz gewiss einer der begabtesten Dramatiker seiner und damit unserer Generation endlich auch in Deutschland entdeckt, veröffentlicht und inszeniert wird. Das sind wir nicht nur seinen großen Vorgängern wie Eugene O’Neill, Arthur Miller, Tennessee Williams, August Wilson und Susan Glaspell schuldig, sondern auch uns selbst.

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