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Google Street View – die Rettung?

Veröffentlicht in Gesellschaft, Internet, Mobilität, Politik, Technologie | 16. August 2010 | 15:05:12 | Dirk Kirchberg

Ebstorfer Weltkarte

Ebstorfer Weltkarte

Mir geht diese sommerlochgehypte Entrüstungsberichterstattung über Google Street View gewaltig auf den Zeiger. Kennen die Damen und Herren Politiker denn nicht Dienste wie Sightwalk oder Norc?! Nein, die Hysterie funktioniert nur, wenn Google draufsteht. Versteht mich nicht falsch, ich bin dafür, dass man kontrolliert, was Unternehmen mit unseren Daten und Daten über uns so veranstalten. Aber einen Dienst, den es in anderen Ländern bereits seit zwei Jahren gibt, zu verteufeln, weil man sich (so vermute ich) auf diese Weise profilieren möchte, ist grotesk und bigott. Es folgt mein Artikel, der in der vergangenen Woche im Feuilleton der der Hannoverschen Allgemeinen erschien.

HAZ vom 13. August: Die größte und inhaltsreichste Karte des Mittelalters, die Ebstorfer Weltkarte, war im Durchmesser rund dreieinhalb Meter groß und bestand aus 30 zusammengenähten Pergamentblättern. Experten vermuten, dass die Karte, die 1943 bei einem Luftangriff auf Hannover vernichtet wurde, um 1300 im Benediktinerinnenkloster Ebstorf in der Lüneburger Heide gefertigt wurde.

Sich auf der Karte zu orientieren fällt zuerst schwer. Denn die Karte war anders als moderne Karten nicht nach Norden ausgerichtet, sondern nach Osten, was auf mittelalterlichen Weltkarten durchaus üblich war. Schließlich glaubte man, das Heil würde von Osten kommen. Zudem ist die Karte mit einer Christusdarstellung verziert. Das Haupt Christi liegt im Osten, die Hände im Norden und Süden, die Füße im Westen.

Im Osten platzierte der unbekannte Kartograf darüber hinaus eine Darstellung des Paradieses. Mittel- und Ausgangspunkt aller Wege, dargestellt als das Herz Christi, ist das heilige Jerusalem. Europa findet sich in der linken unteren Ecke. Städte wie etwa Braunschweig, Lüneburg, Köln und Rom sind verzeichnet. Etwa 1600 Zeichnungen und erklärende, lateinische Beitexte ergänzen das Kartenbild.

Der Kartograf wollte also nicht präzise den Erdkreis abbilden, wollte nicht vorrangig Orientierung im Sinne des örtlichen Zurechtfindens ermöglichen – er entwarf die Karte vielmehr als Spiegelbild des historischen und mythologischen Wissens um 1300. Erhaltene Reproduktionen der verbrannten Karte ermöglichten es Forschern der Universität Lüneburg vor einigen Jahren, eine digitale Version anzufertigen. Diese Karte stellten die Forscher ins Internet – dorthin, wo Google sich mit seinem Projekt Street View seit einigen Jahren daranmacht, ebenfalls eine riesige Karte der Welt zu erstellen. Diese ist allerdings korrekt ausgenordet und maßstabsgerecht.

Es ist mehr als eine Karte, es ist ein gigantisches Welterfassungsprojekt. Man kann bereits virtuell durch zahlreiche Großstädte in den USA, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Italien, Japan und Australien sowie vielen anderen Ländern schlendern. Fotos von Privatleuten, die ihre Bilder mit dem Google-Dienst verknüpft haben, liefern alternative Ansichten. Und Informationen der Online-Enzyklopädie Wikipedia zu Bauwerken und Institutionen sind ebenfalls abrufbar. Darin ähnelt Street View der mittelalterlichen Karte, die auch mehr zeigen wollte als nur die Anordnung von Orten.

Googles Kartenprojekt übertrifft sogar die Vision der Karte im Maßstab 1:1, die dem englischen Schriftsteller Lewis Carroll vorschwebte. Der Autor von Alice im Wunderland lässt in seinem Kinderbuch Sylvie und Bruno von 1893, das sowohl in der realen Welt des Viktorianischen Zeitalters als auch in einem Märchenland spielt, einen Charakter namens Mein Herr auftreten, der berichtet, in seinem Land sei eine Karte im Maßstab 1:1 hergestellt worden. Diese sei allerdings nie viel benutzt worden, da die Bauern gegen das Auffalten protestiert hätten. Daher nutze man nun das Land selbst als seine eigene Karte. Dies sei fast ebenso praktisch.

Der argentinische Autor Jorge Luis Borges griff die Idee einer Karte in Originalgröße 1946 auf und verarbeitete sie in der phantastischen Kurzgeschichte Von der Strenge der Wissenschaft. Borges beschreibt ein Reich mit derartig vollkommenen Karten, dass „die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reiches den einer Provinz“. Als diese Karten jedoch nicht mehr ausreichten, wurde eine erstellt, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte“. Allerdings vernachlässigten spätere Generationen die Karte – es blieben nur Ruinen übrig. Um die Illusion von historischer Authentizität aufrechtzuerhalten, veröffentlichte Borges die Geschichte als vorgebliches Zitat eines fiktiven Autors aus dem Jahr 1658. Da Borges gern Realität und Surrealität in seinen Werken vermischte, fiel es Kommentatoren oftmals schwer nachzuweisen, ob ein erwähnter Schriftsteller erfunden oder real war.

Die Realität von heute hat die Visionen von gestern längst an Größe übertroffen. Die Ängste, die damalige Karten mit ihren weißen Flecken und mythischen, da bisher nicht betretenen Räumen auslösten, haben sich in unserer Gegenwart in Ängste der allzu großen Genauigkeit verwandelt. Künstler und Spaßvögel dagegen nutzen – abseits der Angst vor Überwachung – den virtuellen Raum bereits als globale Galerie.

„Horseboy“ etwa, ein Unbekannter, trägt auf Fotos aus dem schottischen Aberdeen, die Google aufgenommen hat, eine schwarze Hose, einen violettfarbenen Pullover – und eine weiß-braune Pferdemaske. Es finden sich in der virtuellen Orientierungshilfe weitere rätselhafte Figuren – genau wie auf der Karte aus dem Mittelalter. Während im englischen Cambridge ein als Sherlock Holmes verkleideter Mann freundlich in die Kamera grüßt, sitzen im norwegischen Bergen zwei Männer in Taucheranzügen, stilecht mit Schnorchel und Flossen.

Die Künstler Robin Hewlett und Ben Kinsley gar luden das Kameraauto zu sich ein. Sie wollten das erste Kunstprojekt initiieren, das mittels des Kartendienstes für den virtuellen Raum dokumentiert wird. Wer den Sampsonia Way im US-amerikanischen Pittsburgh aufruft, stößt auf eine Musikkapelle. An den Straßenrändern stehen Menschen und werfen Konfetti. Entlang der Straße sind kleine Spielszenen versteckt. In einer Garage steht ein verrückter Wissenschaftler und schießt mit einem Lasergerät auf Paare. Der Laser ist Amors Pfeil des 21. Jahrhunderts, denn die Paare fallen sich, vom gebündelten Licht getroffen, in die Arme und sehen nur noch rosarot – in diesem Falle rote vor die Augen geklebte Stoffherzen. Ach ja, Häuserfassaden sieht man übrigens auch. Aber die sind langweilig real.

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