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Peter Kruse über die Werte des Webs

Veröffentlicht in Gesellschaft, Internet, Kultur, Medien, Politik, Technologie | 22. April 2010 | 10:09:47 | Dirk Kirchberg

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Peter Kruse hat sich geärgert. Über die landauf, landab in Talkshows oft wiederholte Diskussion um die Vor- und Nachteile des Internets. Denn, so der Professor für Organisationspsychologie der Universität Bremen, dort diskutierten häufig vermeintliche Experten über einen Gegenstand, den sie nicht verstünden. „Wenn Sie sich über Netze unterhalten, dann unterhalten Sie sich bitte auch mit Netzen“, rief Kruse vergangene Woche den Hunderten Zuhörern im Friedrichstadtpalast zu.

Sein Vortrag auf der größten Theaterbühne der Welt, der vom Publikum nach nur 29 Minuten mit Ovationen im Stehen bedacht wurde, war keine theatralische oder gar fiktionale Aufführung, sondern eine gut inszenierte und äußerst unterhaltsame Darlegung von Fakten. Kruse hatte für die in Berlin stattfindende Konferenz re:publica, die sich mit dem Web 2.0, sozialen Medien und der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft beschäftigt, eine Umfrage unter rund 200 sogenannten heavy usern, also häufigen Nutzern des Internets, ausgewertet.

Besonders interessierte ihn, wie es dazu kommen kann, dass das Internet oftmals so unterschiedlich bewertet würde. Auf der einen Seite stünden Nachrichtenmagazine wie der Spiegel, die fragen, ob uns das Internet als Gesellschaft verdumme. Auf der anderen Seite stünde das Onlineportal ProPublica, das erst kürzlich mit dem Pulitzerpreis für investigativen Journalismus ausgezeichnet wurde.

Kruse erinnerte daran, dass das weltweite Netzwerk darüber hinaus jüngst für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden sei. Kruse gelangte bei der Auswertung der Fragebögen zu überraschenden Erkenntnissen. So fand er heraus, dass selbst unter den heavy usern erstaunlich unterschiedliche Meinungen zum Wert des Webs herrschen. Der Psychologe, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt auf der Untersuchung der Komplexität von intelligenten Netzwerken liegt, stellte weiterhin fest, dass man diese heavy user grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen könne: in die digital visitors (digitale Besucher) und die digital residents (digitale Bewohner).

Während die beiden Nutzergruppen die Fakten rund um das Internet noch nahezu deckungsgleich beurteilten, seien sie sich über die Rolle des Netzes dagegen uneinig. „Die Nutzer wissen genau, worüber sie reden, sie bewerten das Netz aber ganz anders.“ Und genau darin läge der Knackpunkt, denn oftmals handele es sich bei Diskussionen rund um das Web nicht um den Austausch und die Bewertung von Fakten, sondern um das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertewelten. So seien für die digitalen Besucher gerade der Mitmachgedanke des Web 2.0 sowie soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter ein Rückschritt, während die digitalen Bewohner in ebenjenen Netzen und der Möglichkeit der Einflussnahme als wichtige Entwicklung in Richtung einer direkten Demokratie erkennen würden.

„Wenn diese Lager aufeinandertreffen, ist Verstehen fast unmöglich“, resümierte Kruse. Schließlich könne man nur über Fakten streiten; Werte dagegen müsse man aushandeln. Die Revolution, die das Internet darstelle, sei eigentlich eine Machtverschiebung vom Anbieter auf den Nachfrager, führte Kruse aus und zitierte aus dem bereits 1999 formulierten Cluetrain-Manifest. In 95 Thesen hatten unter anderem der Journalist Doc Searls sowie der Philosoph David Weinberger das Verhältnis von Unternehmen und ihren Kunden im Zeitalter des Internets beschrieben. Die damalige Kernthese, die sich laut Kruse erst jetzt in der Gesellschaft mittels des sozialen Webs durchsetze, lautete: „Wir sind keine Zielgruppen oder Endnutzer oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluss entzieht sich eurem Zugriff. Kommt damit klar.“

Die gesellschaftliche Veränderung durch das Internet sei nicht mehr aufzuhalten, sagte Kruse, außer, man schalte das Internet komplett ab. „Die Lawine donnert bereits zu Tal“, formulierte der Psychologieprofessor seine abschließende Hypothese, „Überzeugungsarbeit ist nicht notwendig.“ Was man für die Bildung einer digitalen Gesellschaft brauche, sei nicht Gewalt, sondern – Geduld.

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Eine Antwort zu “Peter Kruse über die Werte des Webs”

  1. 22. April 2010 um 20:47:42 | Nick777 sagt:

    Guter Beitrag.
    An eurer Stelle hätte ich vielleicht noch ein bisschen mehr über das System der Befragung berichtet (also nextexpertizer… Denn das Wort „Fragebögen“ trifft es eigentlich nicht so richtig…).
    Aber zugegeben, das ist auch sehr komplex – aber auch hoch interessant.
    Habe mein Betriebspraktikum in Peter Kruses Betrieb (nextpractice) gemacht (und bin über einige Ecken mit ihm verwandt) – das ist echt genial, wie die diese Befragungen auswerten.