Kamera
Schokolade

Perlen des Netzes

Veröffentlicht in Freunde, Gesellschaft, Internet | 03. September 2008 | 19:13:04 | Dirk Kirchberg

Nur sehr selten finde ich im Netz einen Text, der mich tief berührt, der in mir etwas anrührt und mich verharren lässt. Ich merke, dass ich Informationen immer schneller verarbeite und mein Bullshit-Detektor mittlerweile sehr nach an foolproof ranreicht. Aber heute war so ein Tag, an dem ich eine Netzperle gefunden habe, bei den Kollegen vom Spreeblick. Und weil mich dieser Text wirklich beeindruckt hat im besten Sinne des Wortes, begann ich einen kleinen Text über meinen Vater, der dieses Jahr bereits 10 Jahre tot ist und so vieles in meinem Leben nicht mitbekommen hat. Um manches davon ist es nicht schade, manches hätte ich ihn aber schon gern erleben sehen.

10 Jahre, wie gestern

Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Bett und schaue fern. Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern auf dem Sofa und schauen sich an. Ich stehe im Türrahmen, schaue meine Eltern an, wie sie sich anschauen. Ich sage ihnen zum ersten Mal, dass ich sie liebe. Sie lächeln, ich schaue wieder fern.

Meine Mutter setzt sich zu mir. Das merkwürdige Geräusch, das wie ein kaputter Abfluss klingt, bemerken wir erst nach einigen Minuten. Ich stehe in der Badtür, und mein Vater liegt auf dem Boden. Er reagiert nicht, und ich bin plötzlich so ruhig und konzentriert und organisiert wie noch nie zuvor. Ich drehe ihn auf die Seite, wie man das beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein lernt, doch ich ahne, dass das hier nicht gut ausgeht.

Ich instruiere meine Mutter, was sie tun soll, setze selbst den Notruf ab, informiere die Feuerwehr über alles Wichtige. Die Sanis kommen rein, wir setzen uns ins Wohnzimmer aufs Sofa, auf das Sofa, auf dem meine Eltern vorhin gesessen und sich angesehen haben, als ich ihnen zum ersten Mal sagte, dass ich sie liebe. Ich sehe in der Scheibe die Spiegelung der Sanis, die auf dem Brustkorb meines Vaters rumdrücken. Ich weiß, dass das hier kein Happyend wird.

Mein Vater ist tot. Die Sanis räumen wortlos auf. Ich gehe hinterher und bedanke mich. Es ist mir ein Bedürfnis, mich zu bedanken. Sie wollen das anscheinend nicht, sagen aber nichts. Ich setze mich im Regen auf unsere Terrasse rufe meine Freundin an, heule hemmungslos am Telefon und bleibe im Regen sitzen, bis sie da ist.

Nachts gehe ich zu meinem Vater, der auf dem Fußboden im Wohnzimmer auf den weichen Decken liegt. Es brennen keine Kerzen. Ich gehe hin, schaue meinen Vater an, küsse ihn auf die Stirn und gehe ins Bett. Und schlafe. Und wache am nächsten Tag auf und gehe durch die Gegend und denke darüber nach, wie es wohl wäre, wenn demnächst meine Mutter sterben würde.

Aber meine Mutter weiß, wann sie sterben wird. Mit 80 friedlich im Bett. Hat ihr eine polnische Wahrsagerin prophezeit. Und wie sieht meine Prophezeiung aus? Meine Website wird nach meinem Tod einen 404 anzeigen, weil keiner den Webspace bezahlt hat.

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