Kamera
Schokolade

Der 9. November am 8.

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Politik | 09. November 2012 | 19:21:14 | Roland Müller

PK_Peter_Feldmann

Sie nennt sich „Gedenkstunde zur Erinnerung an die Wiederkehr der Ereignisse der Pogromnacht 1938“. Und sie findet traditionell statt in der Frankfurter Paulskirche. Und dies am gestrigen 8. November 2012, ab 16 Uhr. Der, wie halbwegs in Zeitgeschichte Bewanderte wissen, nicht der Jahrestag der Pogrome im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres 1938 war, sondern der darauf folgende 9. November. Aber der ist ja mittlerweile „belegt“ durch die deutsch-deutsche Wiedervereinigung des Jahres 1989, um nicht zu sagen in ihrem langen Schatten seitdem in der Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten. Und wenn wir hier schon am Kritikastern sind, sei uns auch der Hinweis gestattet, dass der Titel der Veranstaltung schlicht schlechtes und damit missverständliches Deutsch beinhaltet: Die Götter und die Demokratie mögen uns davor bewahren, dass die Ereignisse jener Pogromnacht wiederkehren, sich also erneut vollziehen! Aber genug der Kritik an verschobenem Zeitpunkt und verschrobener Betitelung. Es war, davon konnten wir uns überzeugen, eine wichtige und bewegende Gedenkstunde, eröffnet vom neuen Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, Peter FeldmannPK_Dieter_Graumann

Und während die Ansprache der neuen OB ein wenig hölzern daherkam und fremdgetextet – nach so kurzer Amtszeit sei es ihm noch verziehen – brillierte danach Dr. Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, um so mehr mit geschliffener freier Rede und beeindruckendem Vokabular. Grass‘ peinlichen Poesie-Aufreger nur kurz und scharf streifend wusste er mit einer brillanten Mischung aus persönlicher Leidenschaft und mitreißendem Optimismus den Blick nach vorne zu richten, in eine positive und hoffnungsvolle Weiterentwicklung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens hier in Deutschland. Erinnern, gedenken ja, aber zugleich den Blick nach vorne richten, das war einmal mehr seine Botschaft. Und damit die passende Antwort auf die ewige Frage allzuoft genervter MitbürgerInnen, wie lange denn noch man über das Geschehene nachdenken und daran erinnern solle. Ich denke, solange man an jene unsägliche Katastrophe vor der Katastrophe erinnert, so lange ist die Gefahr gering, dass sich Vergleichbares wiederholt. Wer die Bilder jenes 9. November selbst gesehen hat, in dem werden sie bis an sein Ende weiter brennen, keine Frage. Doch mit dem Verstummen der Augenzeugen, von denen es biologisch bedingt immer weniger gibt, um vom Entsetzen zu berichten, werden auch diese Bilder blasser. Und damit die Gefahr größer in einem Land, das sich nicht einmal in der Lage zeigt, die Verbrechen eines durchgeknallten Trios piefiger neonazionaler (kein Tippfehler!) Überzeugungstäter schnell und umfassend aufzuklären, dass braunes Gedankengut erneut aus den Sickergruben der Gesellschaft austritt.

PK_Trude_Simonssohn

Es war Trude Simonsohn, die im Anschluss im Zwiegespräch mit Elisabeth Abendroth als eine der wenigen verbliebenen Augenzeuginnen des Holocaust aus eigener Anschauung berichtete, was ihr und ihrer Familie ganz persönlich widerfuhr. Die heute 91-Jährige – einzige Überlebende einer vielköpfigen Familie – wusste mit den ihr eigenen plakativen Worten eine Welt und eine Zeit zu beschreiben, die in ihrer bis in den letzten Winkel des Alltags reichenden chirurgisch kalten Menschenverachtung für uns Nachgeborene jeglicher Vorstellbarkeit entbehrt. Um so wichtiger, dieser beeindruckenden Frau zuzuhören. Zuzuhören dem, was sie sagte, aber noch mehr dem, was sie nicht sagte, nicht in Worte fassen konnte. Ja, die Pogromnacht und die darauf folgenden Widerwärtigkeiten mögen fast ein Dreivierteljahrhundert zurück liegen, aber die deutsche Gegenwart zeigt überdeutlich, dass es wichtiger ist denn je, sie in der Erinnerung wachzuhalten. In unserem ganz eigenen, ja eigennützigen Interesse als Deutsche!

PK_Frank_Wolff

Zum Abschluss der gestrigen und überhaupt nicht ewig gestrigen Veranstaltung durften wir Frank Wolffs perfekt zur Thematik passenden Intonierung seines Cello-Solos „Fremd in der Fremde“ lauschen. Unter dem wohlwollenden Nicken des im Auditorium ebenfalls anwesenden Jazz-Urgesteins Emil Mangelsdorff. Sollte der eine oder andere Anwesende mit den diskanteren Teilen des Musikstücks nichts anzufangen gewusst haben, dann lag das allenfalls am vorgerückten Alter des Publikums. Aber so ist das nun mal an diesen 8. oder 9. Novembern in der Paulskirche zu Frankfurt am Main…

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