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Schokolade

Frankfurter Buchmesse 2012 – letzter Aufruf

Veröffentlicht in Kultur, Kunst, Literatur, Medien | 14. Oktober 2012 | 16:13:29 | Roland Müller

BM21_Rolltreppen

Der Sonntag ist der klassische Horrortag jeder Frankfurter Buchmesse. Die Messe neigt sich ihrem Ende zu, fast alles ist gesagt, fast alles ist gesehen. Und gerade am zweiten der beiden für „normale“ Besucher geöffneten Messetage ergießt sich ein nicht enden wollender Strom von Literatouristen, Schnäppchenjägern, Displayabgreifern und Sonntagsausflüglern in die Hallen. Das Standpersonal ist geschafft vom Bisherigen, genervt vom letzten Ansturm und will eigentlich nur noch nach Hause. Wir nicht. Denn wir sind noch nicht am Ende unserer Berichterstattung und werden heute noch ein paar Beobachtungen machen, Autoren treffen und letzte Lesetipps verkünden. Darunter der in unseren Augen wichtigste und vielleicht größte literarische Wurf dieser Messe…

BM22_JuliaNeigel

Gleich morgens stolpern wir über über Julia Neigel, im Gespräch mit einer SWR-Redakteurin, mitten auf dem quirligen S. Fischer Stand in Halle 3.1 – Julia Neigel? Ist das nicht diese Musikerin, Sängerin, Bandleaderin, die seit den 80iger Jahren so ziemlich alle Auf und Abs des Rockpopgeschäfts durchlebt und durchlitten hat? In der Tat. Und natürlich hat sie all das zu einem Buch verarbeitet. Da wir es nicht angelesen haben, können wir nichts zur Qualität desselben sagen. Müssen wir aber auch nicht. Immerhin hat sie eine Geschichte zu erzählen. Und da stürzen sich bereits die Musikredaktionen der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Sender drauf.

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Wo wir uns aber schon mal durch das Gewimmel bei S. Fischer schieben, fällt unser Blick auf ein neues Buch von Carlos Ruiz Zafón, „Der Gefangene des Himmels“. Und das scheint uns nun tatsächlich ein würdiger zwölfter Buchmesse-Lesetipp zu sein. Erst recht für jeden Leser mit einem Faible für die ganz eigene Magie Barcelonas.

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Wo wir uns so vom Strom der hektischen Menge um uns herum mitreißen lassen, einmal hierhin und einmal dorthin mäandrieren, fühlen wir uns selbst wie in einem Labyrinth gefangen. Einzig das Duden-Motto gibt uns ein wenig Halt. Wenn, dann richtig. Wenn schon Buchmesse, dann müssen auch die Füße schmerzen und der Rücken gebeugt sein von der Last der Eindrücke, der Lawine des Profanen – wovon wir unsere Leser weitgehend verschonen wollen – und dem Gewicht der Verlagsprogramme. Ja, und manchmal, manchmal kann ein einzige Buchentdeckung im gischtigen Meer der Neuerscheinungen diesen ganzen Besuchsmarathon rechtfertigen. Dieses Buch haben wir gefunden…

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Es handelt sich um Chad Harbachs „Die Kunst des Feldspiels“. Wir hatten bereits vor einiger Zeit von jenseits des Großen Teichs etwas darüber läuten hören, ein vernehmliches Rumoren in den Literaturmetropolen beider US-Küsten, Ost wie West. Ein Debütroman. Aber was für einer! Und im Gegensatz zur vorschnellen Schubladenkategorisierung mancher Kritiker ist es definitiv kein „Baseballroman“. Auch wenn diese amerikanischste aller Sportarten darin eine wichtige Rolle spielt – als Metapher auf alles, was Amerika eigenständig macht, im Guten wie im Schlechten. Als Metapher aber auch auf die Zeit und die Befindlichkeit einer ganzen Generation. The Great American Novel, nach der jeder US-Autor strebt, dies ist sie! Und genau deswegen auch für unsereiner lesenswert. Denn mag uns auch die Eigentümlichkeit und das Regelwerk jenes Mysteriums Baseball verschlossen bleiben – nein, wir haben das Spiel bis heute nicht wirklich begriffen – gelingt es Chad Harbach doch, daraus und darin Charaktere zu entwickeln und in ein gemeinsames Schicksal zu verwickeln, die von ungewöhnlicher Tiefe, Authentizität und Glaubwürdigkeit sind. Was der Übersetzer des DuMonts Verlags zu bewahren wusste. Auch dafür ein großes Kompliment. Keine Frage, das ist unser dreizehnter Buchmesse-Lesetipp, aber ganz ohne Zweifel der unverzichtbarste!

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Weil’s thematisch wie geografisch passt, möchten wir im Anschluss dazu gleich noch eine weitere Neuerscheinung ans Herz legen, die uns beeindruckt hat: die deutsche Ausgabe von Mark Twains „Meine geheime Autobiographie“, die er selbst weiland erst nach seinem Tode veröffentlicht sehen wollte. Was zugegebenermaßen dann doch ein wenig länger gedauert hat. Etwa 100 Jahre, um genau zu sein. Denn genau so hatte er es sich ausbedungen. Gleichwohl, was die amerikanische Literaturlegende da sehr posthum vorgelegt hat, hierzulande veröffentlicht vom Aufbau-Verlag, das ist in der Tat Mark Twain vom Allerfeinsten. Oftmals arrogant in seiner Selbstschau, fesselnd, unterhaltsam, aber auch berührend, verletzbar, sensibel, wie wir ihn selten erlebt haben. Feine, überraschende Literatur von einem Großen. Und deshalb unser vierzehnter Buchmesse-Lesetipp.

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Auf dem Rückweg vom Stand des Aufbau-Verlags in Halle 4.1 machen wir noch einen kurzen Stopp bei den Kollegen von Literadio, deren Arbeit uns einmal mehr Respekt abnötigt. So naheliegend es ja eigentlich ist, Literatur übers Radio lebendig werden zu lassen, es gehört Mut und grenzenlose Ausdauer dazu es dann dann auch tatsächlich zu tun, erst recht mitten im fluglärmlauten Arbeitsgeräusch einer Buchmesse.

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Zeit für ein wenig Entspannung im Trubel? Dafür eignet sich am besten ein Krimi. Zum Beispiel Horst Eckerts „Die Festung“. Diese enthält zwei seiner bekanntesten Kriminalromane in einem Band und kann deshalb eine wunderbare Einstiegsdroge in seine abgründigen Welten sein. Wobei man den beiden Geschichten überhaupt nicht anmerkt, dass sie bereits in den neunziger Jahren erschienen sind. Sehr empfehlenswert. Vor allem aber ungemein spannend bis zum Finale.

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Übrigens: Wenn man den Horst Eckert so sieht, schaut er eigentlich viel zu nett aus für die mitunter wirklich düsteren Geschichten und menschlichen Konflikte, die er sich ausdenkt, oder?

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Ein ganz anderes, aber nicht minder spannendes Genre vertritt Gerhard Seyfried. Mit „Verdammte Deutsche!“ wagt er sich in eine Zeit zurück, die weltweit den Grundstein gelegt hat für das Bild des ungeliebten „Krauts“. Ein Spionageroman, der im reichlich verminten Vorfeld des Ersten Weltkrieges angesiedelt ist. Brillant recherchiert und beschrieben wird eine historisch belegbare deutsch-englische Geschichte rekonstruiert, die uns zurück führt in das Dickicht der Geheimdienstarbeit zu Beginn eines Jahrhunderts, das aufgeheizt war mit nationalem Wahnsinn und schlussendlich endete, wie es endete.

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Eine ganz andere Seite unserer britischen Nachbarn – wenn man sie denn als Nachbarn betrachten mag mit ihrer eigenartigen Distanz zu Kontinentaleuropa – serviert uns Alan Bennett mit „Schweinkram“ in der wunderbaren Wagenbach Reihe SALTO. Zugegeben, wir lieben Bennett, der ja eigentlich Theaterregisseur ist, seit wir ihn anlässlich der letztjährigen Buchmesse hier vorgestellt haben. Keiner vermag die schrulligen, skurrilen und dann doch wieder liebenswerten Eigenschaften der Briten so wunderbar in Dialoge zu kleiden wie er. In seinem neuen Bändchen gelingt es ihm einmal mehr. Zumal es darin um etwas Allzuzwischenmenschliches geht, über das insbesondere ein distinguierter Brite normalerweise verschämt zu schweigen pflegt. Und das wir ihm in dieser Brisanz so gar nicht zugetraut hätten. Wunderbar! Und ganz klar unser fünfzehnter Buchmesse-Lesetipp.

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Zurück in Halle 3 machen wir noch eine schnelle Runde entlang den auch auf dieser Messe immer präsenteren asiatischen Verlage und amüsieren uns über die in obigem Schnappschuss liegende ungewollte Programmatik der Korea Creative Content Agency

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Wir passieren den Gemeinschaftsstand Taiwans und fragen uns dabei, wie lange die Inselchinesen wohl noch ihre auch literarische Eigenständigkeit gegenüber dem Mutterland bewahren werden. Das aktuelle Säbelrassseln der Volksrepublik gegenüber Japan gibt uns auch da zu denken.

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Bevor uns trübe Gedanken zur Weltpolitik aber weiter heimsuchen, gilt es noch eine Entdeckung deutlich fröhlicherer Art zu verkünden. In der Schweiz hat’s ein früherer Texterkollege geschafft, der Werbung den Rücken zu kehren und mit seinem bei Salis verlegten herrlich schrägen Roman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ den Sprung zu schaffen auf die Nominierungsliste zum Schweizer Buchpreis 2012! Gratulation! Und eine unterhaltsame Homepage hat er auch, der Thomas Meyer. Aber auch ohne die ist er unser sechzehnter Buchmesse-Lesetipp!

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Nachdem Thomas Meyer gewissermaßen ein Kollege ist, würde er sicher auch aus der Erfahrung seines früheren Tagesgeschäfts Gefallen finden an den Nuuna Notebooks, die wir ebenfalls auf der Buchmesse entdeckt haben. Brandbooks zum Festhalten von Ideen, Inspirationen, Texten, in erstklassiger Verarbeitung und mit herzerfrischenden oder einfach nur ausnehmend schönen grafischen Gestaltungen. Wer eh in Frankfurt unterwegs ist, kann ja mal im Nuuna Store vorbeischauen – Brückenstraße 66 in 60594 Frankfurt am Main.

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Wie kriegt man die Kurve von einem Notizbuch mit witzigem Titel zu einem Buch mit überaus schwergewichtigem Inhalt? Eigentlich gar nicht. Und vielleicht sollte man es auch gar nicht erst versuchen. Siddharta Mukherjes „Der König aller Krankheiten“ hat 2011 den Pulitzer-Preis erhalten und sich fest auf den Bestsellerlisten etabliert. Und dies völlig zu Recht. Denn was der Krebsforscher und Onkologe hier vorlegt, ist die Biografie einer Geißel der Menschheit und allein schon aufgrund dieser ungewöhnlichen literarischen Herangehensweise mit nichts vergleichbar, was bisher zum Thema Krebs publiziert worden ist. Wer sich dazu in der Lage fühlt, der möge es lesen. Doch Vorsicht: Die Lektüre verändert ganz gewiss die eigene Sicht der Dinge! Und das ist mehr als die allermeisten Autoren von ihren Büchern erwarten dürfen.

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Schnitt. Und erneut sind wir mit der Unmöglichkeit konfrontiert, eine originelle thematische Brücke zu bauen. Aber egal. Wir werden uns jedenfalls den Namen J. J. Voskuil merken müssen. Der 2008 verstorbene Niederländer hat mit „Das Büro“ ein dialoglastiges Werk vorgelegt, das wohl jedem abhängig Beschäftigten einen mehr oder eher weniger wohligen Schauer déjà-vue über den Rücken laufen lässt. Ob das in der letzten Ausbaustufe (zumindest im niederländischen Original) siebenbändige Epos Kultformat hat, was die Spiegelredaktion vermutet und die ZEIT bezweifelt, das mag jeder Leser für sich selbst entscheiden. Stromberg-Fans werden ihm nach diesen ersten 848 Seiten applaudieren, so viel ist sicher.

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Was wir unseren treuen Lesern zum Abschluss unserer gemeinsamen Rundreise über die Frankfurter Buchmesse 2012 allerdings noch mitgeben möchten, ist unser siebzehnter Buchmesse-Lesetipp: Radek Knapps „Reise nach Kalino“ ist zugleich auch der Schlusspunkt unserer Reise durch die Frankfurter Messehallen. Bei Piper erschienen handelt es sich bei diesem kurzweiligen Buch auf den ersten Blick zwar um einen Kriminalroman. Auf den zweiten Blick dann aber schon nicht mehr. Man muss schon im angloamerikanischen Sprachraum einen Paul Auster bemühen, um einen Vergleichsmaßstab für die Qualität der (Detektiv-)Geschichte und ihre Protagonisten zu finden. Und das ist nun weißgott eine heftige Messlatte!

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Damit möchten wir uns nun verabschieden. Wir freuen uns, wenn wir dem einen oder anderen Begleiter auf unserer kleinen Buchmesse-Expedition einen Einstieg in spannende, berührende, bewegende oder einfach auch nur zerstreuende Literatur geben konnten. Wie immer wollen wir uns auf auf der nächsten Buchmesse den Blick aufs scheinbar Nebensächliche bewahren und uns eher dort bewegen, wo andere Berichterstatter es versäumen, stehen zu bleiben und genauer hinzuschauen. Was wir uns zugegebenermaßen leisten können als ökonomisch und ideologisch nur uns selbst verantwortliches Online-Medium. In diesem Sinne…

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