Kamera
Schokolade

Das Vertraute im Fremden

Veröffentlicht in Gesellschaft, Kultur, Kunst, Literatur, Unterhaltung | 24. September 2010 | 09:55:51 | Dirk Kirchberg

In Timbuktu hat Roger Willemsen einmal einen Beduinen getroffen und ihn gefragt, was dieser abends so mache. Dieser antwortete, er erzähle seinen vier Frauen Geschichten. „Stellen Sie sich einen Ehemann in Deutschland vor, der seiner Frau jeden Abend Geschichten erzählt“, fordert Willemsen das Publikum im nahezu ausverkauften Pavillon am Mittwochabend auf. „Die Dame wäre nach drei Tagen weg.“

Wenn allerdings Willemsen in der Bühnenversion seines neuen Buches „Die Enden der Welt“ Geschichten aus fernen Ländern und von fremden Menschen, deren Leben und Bräuchen erzählt, läuft niemand weg. Denn Willemsen reportiert stets begeisternd und mitreißend von seinen Begegnungen. Wie etwa von Lili, einer Witwe im chilenischen Patagonien, die vier Stunden lang in den nächsten Ort reitet, um Zigaretten zu kaufen, nur um vor Ort zu erfahren, dass es heute keine Zigaretten gibt. Oder von dem Krankenhaus in Minsk, in dem Willemsen sich an das Bett eines Greises setzt, der im Sterben liegt. Oder von der jungen, an Aids erkrankten Prostituierten, die in Bombay von ihrer Mutter verhökert wird an jeden, der entweder selbst HIV-positiv ist oder einmal den Hauch d es Todes spüren will.

Atemlos hängen die Zuhörer an Willemsens Lippen, wenn er von seiner Reise nach Tonga berichtet, wie er einen Mann, einen Rugbyspieler, auf der Straße kennenlernt und wie dieser ihn überredet, seine eigentlichen Reisepläne zu ändern und den Rugbyspieler zu einer Beerdigung zu begleiten. Und wie Willemsen nach diesem spontanen Umweg erfährt, dass das Schiff, mit dem er eigentlich fahren wollte, untergegangen ist und mehr als 120 Menschen dabei umgekommen sind. Willemsen lässt sich gern treiben und saugt in sich auf, was an Vertrautem in der Fremde ihm begegnet. So habe er ein Zahninlay, das er in einem Hotel im schweizerischen Locarno verloren hatte, in einer Pension im afghanischen Kabul wiedergefunden. „Es hätte meins sein können – oder das eines anderen“, sagt Willemsen. So oder so, das Inlay befinde sich seitdem in seinem Mund.

Berührungsängste kennt Willemsen nicht. Wie einst Odysseus wolle er die „Grenzen unseres Staunens, unserer Neugier stimulieren“, sagt Willemsen. In Borneo habe er sich einmal die Krätze eingefangen, als er einen jungen Orang-Utan in den Armen gehalten habe. „Wir wurden dann beide mit der gleichen weißen Salbe eingecremt“, erinnert sich Willemsen. „Seitdem heißt der Orang-Utan Little Roger.“

„Die Geschichten in diesen Ecken der Welt entwickeln sich gern dramatisch“, habe Lili aus Patagonien zu ihm gesagt. Nur gut, dass Willemsen da war, um uns davon zu erzählen.

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